Nach dem Tod Sauls wurde David von seinen Stammesbrüdern zum König über seinen eigenen Stamm Juda ausgerufen. Die übrigen Stämme folgten jedoch dem von Sauls Heerführer Abner unterstützten Gegenkönig Isch-Boschet, einem Sohn Sauls. Nachdem dieser von zwei seiner Offiziere ermordet worden war, wurde David nach siebeneinhalb Jahren, in denen er in Hebron nur über Juda geherrscht hatte, König über ganz Israel. Zunächst eroberte er nun seine künftige Hauptstadt Jerusalem, baute seinen Palast und sicherte seine Macht (2Sam 5,5-10; 2Sam 7,1). Dann begann er einen Eroberungsfeldzug in das Gebiet des heutigen Syrien, das damals Aram hieß. In 2Sam 8 + 10 wird über mehrere Kriege berichtet, durch die er sich das ganze Gebiet der Aramäer diesseits des oberen Euphrat unterwarf. Hierbei werden keine Angaben zur Heeresgröße Israels gemacht. Dafür werden aber die Größe der feindlichen Heere und/oder deren Verluste unter Angabe von ÄLäPh und Hundertern dargestellt. Dabei ergeben sich konventionell häufig Zahlen im vier- und fünfstelligen Bereich. Hier sind bei der Deutung der ÄLäPh gleich mehrere zusätzliche Probleme zu berücksichtigen:
- Die Heeresorganisation der feindlichen Völker muss nicht zwingend mit der Israels identisch gewesen sein, da die Einheiten nicht durch den Begriff חֲמֻשִׁים (ChaMuSchI’M) als Fünfzigschaften gekennzeichnet sind wie bei den Midianitern (Ri 7,11, siehe 4.5.1). Außerdem ist je Truppengattung – Fußsoldaten, Reiter und Streitwagen – eine jeweils unterschiedliche Größe der Einheiten denkbar. So gab es z.B. in der römischen Legion der frühen Kaiserzeit die Centurie mit einer Sollstärke von 80 Fußsoldaten und Reiterabteilungen zu je 30 Mann.
- Die Kriege fanden außerhalb des Landes Israel statt. Der Schreiber des in 2Sam überlieferten Kriegsberichtes war vermutlich nicht selbst bei den Kriegszügen dabei, sondern auf Augenzeugenberichte von am jeweiligen Feldzug Beteiligten angewiesen. Es könnten bei jedem Feldzug andere Augenzeugen befragt worden sein.
- Zu den Berichten in 2Sam gibt es parallele Berichte in 1Chr 18 + 19, in denen sowohl die Zahlen als auch die Bezeichnungen der Einheiten oder Rahmenbedingungen teilweise abweichen. Aus einzelnen Detailangaben ist aber jeweils erkennbar, dass es sich um dieselben Ereignisse handelt.
Die meisten Ausleger gehen als Begründung für die Abweichung der beiden Berichte von Abschreibfehlern im Überlieferungsprozess aus. Zerbst verweist dabei auf einen Vorschlag, der Fehler bei alttestamentlichen Zahlenangaben auf die Verwechslung von bestimmten sich ähnelnden Konsonanten – die im Hebräischen ausnahmslos auch für Zahlen verwendet wurden – zurückführt.1 In den betroffenen Parallelberichten werden die Zahlen aber – wie überall im Alten Testament – mit Zahlwörtern angegeben. Die einzelnen Buchstaben mit ihrer Zahlenbedeutung werden nicht wie unsere Ziffern zur Bildung von zusammengesetzten Zahlen verwendet. Die unterschiedlichen Zahlbedeutungen der Buchstaben und die leichte Verwechselbarkeit einzelner Buchstaben können also nicht die Ursache für die Unterschiede bei den Zahlenangaben in den Parallelberichten sein. Auch im Deutschen wäre die leichte Verwechselbarkeit einzelner Ziffern wie „1“ und „7“ nicht relevant, wenn Zahlwörter verwendet werden. So können die Zahlen „1.000“ und „7.000“ zwar leicht verwechselt werden, die Zahlwörter „eintausend“ und „siebentausend“ dagegen kaum. Außerdem sind neben den verschiedenen Zahlen weitere gravierende Unterschiede zwischen den Parallelberichten zu erklären, da eben nicht nur die Zahlen, sondern auch die angegebenen Rahmenbedingungen wesentlich abweichen. So werden z.B. unterschiedliche Bezeichnungen für die militärischen Einheiten oder die gegnerischen Völker verwendet bzw. die in dem einen Bericht enthaltenen Detailzahlen im Parallelbericht zu Summen zusammengefasst (siehe folgende Abschnitte).
Deshalb nehme ich an, dass es sich hier von Anfang an um eigenständige Berichte von zwei Chronisten handelte, die auf Auskünften verschiedener Augenzeugen beruhen. Zeugenaussagen zum selben Ereignis, z.B. einem Verkehrsunfall, weichen im Detail oft stark voneinander ab, auch wenn alle Zeugen nach bestem Wissen und Gewissen aussagen. Das kann an verschiedenen Standorten der Zeugen liegen oder einer Fokussierung auf bestimmte Details, die sich besonders einprägen, während andere nicht im Gedächtnis behalten werden. Auch Vorkenntnisse bzw. eigene Erfahrungen zum beobachteten Sachverhalt oder eine starke emotionale Beteiligung können die Zeugenaussage unbewusst beeinflussen. Dies macht die Wahrheitsfindung vor Gericht manchmal schwierig. Andererseits kann das Vorliegen mehrerer Zeugenaussagen auch hilfreich sein, wenn jeder Zeuge andere Details beiträgt und ein gemeinsamer Nenner gefunden werden kann, zu dem alle Aussagen passen. Das Ermittlungsergebnis ist bei Vorliegen mehrerer Zeugenaussagen sicherer wahr, weshalb nach dem mosaischen Gesetz eine Verurteilung nur auf Aussage von zwei oder drei Zeugen erfolgen durfte (5Mose 19,15). Deshalb prüfe ich nachfolgend, ob es für die unterschiedlichen Aussagen in den Kriegsberichten eine Deutung gibt, zu der beide Beschreibungen – ggf. mit neuer Bewertung der ÄLäPh – passen.