Neben den Fristen von 400 und 430 Jahren wird in der Bibel auch noch eine Frist von 450 Jahren genannt. Paulus erwähnt diese in seiner Rede in Antiochia in Pisidien auf seiner ersten Missionsreise in Apg 13,17-21:

17 Der Gott dieses Volkes Israel erwählte unsere Väter und erhöhte das Volk in der Fremdlingschaft im Land Ägypten, und mit erhobenem Arm führte er sie von dort heraus; 18 und eine Zeit von etwa vierzig Jahren ertrug er sie in der Wüste. 19 Und nachdem er sieben Nationen im Land Kanaan vertilgt hatte, ließ er sie deren Land erben 20 ⟨für⟩ etwa vierhundertfünfzig Jahre. Und danach gab er ihnen6 Richter bis zu Samuel, dem Propheten.
     6 andere Handschr.: Und danach, ⟨für⟩ etwa 450 Jahre, gab er ihnen
21 Und von da an begehrten sie einen König, und Gott gab ihnen Saul, den Sohn des Kisch, einen Mann aus dem Stamm Benjamin, vierzig Jahre lang.

Die hier zitierte Elberfelder Übersetzung folgt den ältesten Handschriften des griechischen Grundtextes (zu der in der Fußnote angegebenen abweichenden Lesart unten mehr). Baader schreibt in „Chronologie der Bibel“ hierzu folgendes:

Die vier ältesten Grundtexte größeren Umfangs (Sinaiticus, Vaticanus, Alexandrinus und Ephraemi), einschließlich des im Textwert von Kurt Aland als gut eingeschätzten Papyrus P74, bezeugen die in dieser Übersetzung berücksichtigte Lesart: „… etwa in vierhundertfünfzig Jahren. Und nach diesen …“. Auch in der Vulgata (lateinischen Übersetzung) wurde diese Lesart wiedergegeben.1

Aus Vers 20 ergibt sich aus dieser Lesart, dass die 450-Jahres-Frist vor der Zeit der Richter endete. Bei dieser Frist geht es laut Vers 19 um das „Erben“ des Landes. Die Wegnahme des Landes von den Kanaanitern und damit deren Enterbung war schon im Jahr des Einzugs Abrahams in Kanaan von Jahwe beschlossen, denn in 1Mose 12,7 erhält Abra(ha)m die Verheißung, dass Jahwe dieses Land seinem Samen (frei: seiner Nachkommenschaft) geben würde. Die 450 Jahre lange Frist bis zur Verteilung des Landes an die Israeliten beginnt 25 Jahre nach der Verheißung des Landes mit der Geburt des verheißenen Samens Isaak, der als neuer Erbe eingesetzt wird. Sie beinhaltet somit auch die Zeit der Erwählung der Väter und die Zeiten des Ägyptenaufenthalts sowie der Wüstenwanderung. Darauf wird in den Versen 17+18 (siehe Zitat oben) unmittelbar vor der Erwähnung der 450-Jahres-Frist hingewiesen. Die Frist endet mit der Zuteilung des Landes an die 9 ½ Stämme, die westlich des Jordans siedelten, im Laufe des sechsten Jahres nach Überschreitung des Jordans (Jos 14,1-5).

Die sechs Jahre ergeben sich aus dem Alter Kalebs, der bei der Aussendung der Kundschafter ein Jahr nach dem Exodus und vor den verbleibenden 39 Jahren Wüstenwanderung 40 Jahre alt und bei der Landverteilung 85 Jahre alt war (Jos 14,5-10). Zieht man von den 85 Jahren das Alter vor der Aussendung und die 39 Jahre der verbleibenden Wüstenwanderung ab, so bleiben (85 – 40 – 39 =) 6 Jahre übrig. In den 450 Jahren sind neben den 6 Jahren der Eroberungskriege 40 Jahre Wüstenwanderung sowie die letzten 405 Jahre vor dem Auszug aus Ägypten enthalten, die mit der Geburt Isaaks beginnen. Es ergeben sich so 451 Jahre. Die Differenz von einem Jahr ließe sich damit erklären, dass Kaleb bei er Aussendung der Kundschafter nicht genau 40 Jahre alt war, sondern einige Monate älter und deshalb keine vollen 6 Jahre sondern nur 5 Jahre + x Monate bis zur Landverteilung vorlagen. Die Frist hätte dann 450 Jahre und x Monate gedauert, was wegen des „etwa“ in Apg 13,20 vertretbar ist.

Die Vers-Einteilung in der zitierten Bibelstelle in der Apostelgeschichte ist unglücklich gewählt, da die 450 Jahre in Vers 20 zu dem Satz in Vers 19 gehören. Die an den eckigen Klammern erkennbare Einfügung „⟨für⟩“ am Anfang von Vers 20 in der Elberfelder ist abzulehnen, da das Land nicht nur für 450 Jahre zugeteilt wurde, sondern dauerhaft solange der Bund mit Jahwe eingehalten wurde. Die tatsächliche Wegführung der Nordstämme erfolgte wegen ihrer Abwendung von Jahwe erst 722 v. Chr. und damit nahezu 700 Jahre nach der Landverteilung, die der beiden Südstämme sogar erst 587/586 v. Chr. Die Präposition „⟨für⟩“ steht nicht im Grundtext. Das Wort „Jahre“ steht im Grundtext im Dativ. Dazu muss man wissen, dass im Griechischen der Dativ auch ohne Präposition vorkommt, während in der deutschen Übersetzung für das richtige Verständnis i.d.R. eine Präposition eingefügt werden muss. Die Aussage ist im griechischen Text allerdings nicht immer eindeutig, da gedanklich jede den Dativ regierende Präposition, die zum Kontext passt, eingefügt werden könnte. In Apg 13,20 passt bei korrekter Auslegung des Kontextes wie oben gezeigt im Deutschen am besten die Präposition „nach“ mit dem Dativ von „Jahren“. Das Land wurde nicht für 450 Jahre, sondern nach 450 Jahren verteilt. Korrekt müsste Apg 19b+20 also wie folgt lauten:

19b … ließ er sie deren Land erben 20 ⟨nach⟩ etwa vierhundertfünfzig Jahren. Und danach gab er ihnen6 Richter bis zu Samuel, dem Propheten.  

6 andere Handschr.: Und danach, ⟨für⟩ etwa 450 Jahre, gab er ihnen

In einigen späteren griechischen Handschriften erfolgte in Vers 20 eine Umstellung der Wortreihenfolge zu: „Und danach, ⟨für⟩ etwa 450 Jahre, gab er ihnen Richter …“. Eine 450-jährige Richterzeit steht aber im Widerspruch zu den in 1Kön 6,1 genannten 480 Jahren zwischen dem Auszug aus Ägypten und dem Beginn des Tempelbaus im 4. Regierungsjahr Salomos. Die 480-Jahres-Frist beinhaltet neben der Richterzeit die 40-jährige Wüstenwanderung und 6 Jahre Eroberungskriege sowie Regierungszeiten von Saul (40 J.), David (40 ½ J.) und Salomo (4 J.). Von der Landverteilung ca. 6 Jahre nach Überschreitung des Jordans bis zur Einsetzung von Saul als König bleiben also nur rund (480 – 40 – 6 – 40 – 40,5 – 4 ≈) 350 Jahre für die restliche Lebenszeit Josuas und die Richterzeit. Diese späte Lesart von Apg 13,20 ist somit abzulehnen. Hier dürfte eine absichtliche Änderung eines späteren Abschreibers vorliegen. Diesem erschien offenbar ein Zeitraum von 450 Jahren für die Verteilung des Landes als zeitlich viel zu lang.2 Mit dem oben vorgestellten Vorschlag für die Einordnung der 450-Jahres-Frist aus Apg 13,20 unmittelbar vor der Landverteilung im sechsten Jahr nach der Überschreitung des Jordans liegt eine plausible Deutung für den exakten Wortlaut von Apg 13,19-21 in den älteren griechischen Handschriften vor. Somit erübrigen sich „verbessernde“ Eingriffe in den Text, die statt zu einer Klärung zu innerbiblischen Widersprüchen führen. 

Dass die 480-Jahres-Frist tatsächlich genau 480 Jahre lang war und nicht – wie von verschiedenen Auslegern vertreten – deutlich länger oder deutlich kürzer, begründe ich detailliert in den Abschnitten ‎9.1 bis ‎9.1.4.2. Dabei zeige ich auch, dass alle biblisch genannten Regierungszeiten von Richtern und Königen sowie die Unterdrückungszeiten schlüssig in den genannten 480 Jahren untergebracht werden können.

  • 1 Baader: Chronologie der Bibel, S. 200

    2 Vgl. ebd., S. 200