Josua plant den Angriff jetzt gründlicher. Er sendet 30 ÄLäPh bei Nacht voraus um hinter Ai Stellung zu beziehen (Jos 8,3). Diese Zahl kann entweder als 30.000 Mann oder – unter Annahme einer irrtümlichen Zusammenziehung der ursprünglichen 15 ÄLäPh mit 15 ÄLäPh durch einen späteren Revisor zu 30 ÄLäPh – als 15 Einheiten mit insgesamt 15.000 Mann gedeutet werden. Nur die zweite Deutung ist mit den Annahmen in Abschnitt 4.2.1 vereinbar. Es ist völlig ausgeschlossen, dass ein Heer dieser Größenordnung auch bei Nacht auf demselben Anmarschweg wie das erste Heer an Ai vorbeimarschiert ist, ohne bemerkt zu werden. Daher ist anzunehmen, dass dieses Heer einen anderen Weg gewählt hat. Mit der Familie Rahabs standen Ortskundige als Führer zur Verfügung. In Anlage 6c ist eine Alternativ-Route ebenfalls rot markiert und mit „Ephraim-Route“ bezeichnet. Diese Route führt in das Bergland zwischen Sichem und Bet-Awen. Wenn beide Städte tatsächlich wie in Abschnitt ‎4.4.2 vorgeschlagen, zu dieser Zeit schon zerstört waren, wäre dies gefahrlos möglich gewesen. Josua zieht selbst mit dem restlichen Heer (20.000 - 15.000 = 5.000 Mann) auf demselben Weg wie das erste geschlagene Heer (siehe Anlage 6c: Zeboim-Route) nach Ai (Jos 8,10). Da er auf einen Angriff gefasst war, wird er eine entsprechend wachsame Vorhut vorausgeschickt haben. Für die Späher Ais schien das Heer zwar nun etwas größer zu sein, als das beim ersten Anmarsch in die Flucht geschlagene, aber nicht völlig übermächtig.

Nachdem Josua vor Ai eingetroffen war, bezog er ein Lager im Norden von Ai (Jos 8,11). Dann nahm er Kontakt mit den im Westen von Ai versteckten 15.000 Mann auf und schickte 5.000 von ihnen in das Wadi Sheban hinter einem Höhenzug westlich von Ai (Jos 8,12). Den genauen Ort des Hinterhalts konnte er erst jetzt nach Besichtigung des Geländes festlegen. Ebenso musste ein Vorposten auf der Anhöhe eingerichtet werden, der Josuas Angriffssignal sehen und weitergeben konnte (Jos 8,18-19). Bei der Absendung der 15.000 hatte Josua den allgemeineren Auftrag gegeben, sich hinter der Stadt (= westlich von ihr) nicht zu weit entfernt bereitzuhalten (Jos 8,4). Da für die Umschließung des feindlichen Heeres im freien Feld mehr Männer benötigt wurden, als für die Eroberung der von Kämpfern völlig entblößten Stadt, zog er die übrigen 10.000 vom Westen zu sich in den Bereich nördlich der Stadt. Dies kann aus Jos 8,13 geschlossen werden. Dieser Vers wird üblicherweise wie folgt übersetzt:

13 Und so stellten sie das Volk auf, das ganze Lager, das nördlich von der Stadt war, und sein Ende8 westlich von der Stadt. …  8 w. Ferse; o. Huf; militärisch: der hintere Teil des Heeres

Das Wort עָקֵב (ÃQeBh, hier mit Possessiv-Suffix וֹ [O = seine]: עֲקֵבוֹ) ist laut Gesenius in den meisten Vorkommen mit Ferse zu übersetzen. Nur für Jos 8,13 wird „der hintere Teil des Heeres“ vorgeschlagen. An drei Stellen wird es mit „Fußtritte, Spuren“ übersetzt.1 Nachfolgend einige Übersetzungsbeispiele für diese drei Stellen und für Jos 8,13:

Bibelstelle

Luther

Elberfelder

Schlachter

Zürcher

Neue evangelistische (bis 2019)

DaBhaR

Ps 77,20

Spur

Fußspuren

Fußstapfen

Spuren

Spuren

Fersspuren

Ps 89,52

Spuren

Fußspuren

Fußstapfen

Spuren

Was … unternimmt

Fersen (Fußnote: auch Fersspuren)

Hld 1,8

Spuren

Spuren

Spuren

Spuren

Spuren

Fersspuren

Jos 8,13

Nachhut

Ende8

Hinterhalt

Nachhut

Reserve

Fersspur

8 w. Ferse; o. Huf; militärisch: der hintere Teil des Heeres

Wenn man auch für Jos 8,13 die Übersetzung „Spuren“ annimmt, ergibt sich folgende wörtliche Übersetzung:

וַיָּשִׂ֨ימוּ הָעָ֜ם אֶת־כָּל־הַֽמַּחֲנֶ֗ה אֲשֶׁר֙ מִצְּפ֣וֹן לָעִ֔יר וְאֶת־עֲקֵב֖וֹ מִיָּ֣ם לָעִ֑יר 13

13 WaJaSchIMU HaÃM ÄT-KoL-HaMaChaNäH ASchäR MiZöPhON La~IR WöÄT-ÃQeBhO MiJaM La~IR …

13 Und sie stellten das Volk auf, das ganze Heerlager, welches im Norden der Stadt (war), und seine Spur (kam) von Westen (wörtlich: vom Meer her) zu der Stadt. … (eigener Übersetzungsvorschlag)

Etwas freier übersetzt könnte man auch sagen: „Das Kriegsvolk, das im Norden lagerte, kam ursprünglich von Westen.“ Damit könnten diese von den Einwohnern von Ai noch nicht bemerkten 10.000 Mann gemeint sein, die nach dem Abzug Josuas und seiner 5.000 Mann in das Tal vor Ai allein im Norden verblieben.

Josua ging noch in der gleichen Nacht, in der die 5.000 Mann in dem Hinterhalt im Wadi Sheban und die übrigen 10.000 Mann im Norden Stellung bezogen hatten, mit seinem ursprünglichen Heer von 5.000 Mann in das Tal vor der Stadt und stellte damit den Köder – entsprechend der Situation bei der Niederlage der Israeliten – auf (Jos 8,13b). Da Israel in dem Tal seine zahlenmäßige Überlegenheit nicht ausspielen konnte, griff der König von Ai auch dieses Mal bergabwärts mit seinen besten Soldaten an (Jos 8,14). Er wollte die Chance nutzen, dem Feind Verluste zuzufügen und dessen Kampfmoral, von der er nach dem ersten Kampf sowieso keine sehr hohe Meinung hatte, weiter zu schwächen.

Josua und sein ganzes Heer flohen gemäß Jos 8,15 auf dem Weg Richtung Wüste, d.h. nach Osten, wo die judäische Wüste liegt. Damit war das Heer von Ai im Osten von den Geflüchteten, im Norden von den 10.000 von Westen Herangeführten und im Westen von dem Hinterhalt umschlossen. Die östlich und westlich stehenden Heeresteile von je 5.000 Mann bildeten die Backen einer Zange, die auch die Südseite umschließen und somit jeden Fluchtversuch verhindern konnten. Der König Ais, der davon nichts ahnte, rief alle Männer zur Verfolgung der Israeliten herbei und ließ das Stadttor offen, so dass Teile der im Westen versteckten Israeliten auf das Zeichen Josuas die Stadt widerstandslos einnehmen und anzünden konnten (Jos 8,16-19). Die nach Osten geflüchteten Israeliten kehrten daraufhin um, so dass das Heer Ais vollständig aufgerieben wurde und auch alle seine Einwohner inklusive der Flüchtlinge aus Bethel und dem Umland – insgesamt 550 Männer und 1.000 Frauen und Kinder – getötet wurden (Jos 8,24-25; siehe ‎4.4.3).

Das dargestellte Szenario berücksichtigt alle Angaben des Bibeltextes und trifft textkonforme Annahmen zur Füllung der bestehenden Informationslücken. Auch archäologische Erkenntnisse werden berücksichtigt. Die dabei vorgenommene Deutung der Zahlen in Josua 7und 8 gibt mit den bisherigen Annahmen zur Größe des Heeres Israels ein konsistentes Bild. Auch hier sind die in den Angaben zur Heeresgröße Israels vorkommenden ÄLäPh als Einheiten von 1.000 Mann bzw. als Zahl 1.000 zu verstehen. Bei den auf dem Schlachtfeld gefallenen Kämpfern Ais bedeutet ÄLäPh wie bei den auf dem Schlachtfeld gefallenen Männern bei der Strafaktion gegen Benjamin (siehe ‎4.3.3) „50er-Einheit“. Die Anzahl der getöteten Frauen und Kinder wird daneben als normale Zahl ausgedrückt. Hier ist ÄLäPh somit als Zahl 1.000 zu verstehen.

  • 1 Vgl. Gesenius: Hebräisches Handwörterbuch, S. 1.004, עָקֵב