Ab Ri 2,6 fängt ein neuer Bericht von einem anderen Verfasser an, der bis Ri 3,31 reicht. Dieser neue Autor beginnt seinen Bericht ebenfalls mit Josua, sogar mit einer Rückblende auf die Landverteilung sechs Jahre nach dem Beginn der Eroberung des Westjordangebietes – 19 Jahre vor Josuas Tod. Ich zitiere Ri 2,6-11:
6 Und Josua entließ das Volk, und die Söhne Israel gingen hin, jeder in sein Erbteil, um das Land in Besitz zu nehmen. 7 Und das Volk diente dem HERRN alle Tage Josuas und alle Tage der Ältesten, die nach Josua noch länger lebten, die das ganze große Werk des HERRN gesehen hatten, das er für Israel getan hatte. 8 Dann starb Josua, der Sohn des Nun, der Knecht des HERRN, 110 Jahre alt. 9 Und sie begruben ihn im Gebiet seines Erbteils, in Timnat-Heres auf dem Gebirge Ephraim, nördlich vom Berg Gaasch. 10 Und auch jene ganze Generation wurde zu ihren Vätern versammelt. Und eine andere Generation kam nach ihnen auf, die den HERRN nicht kannte und auch nicht das Werk, das er für Israel getan hatte. 11 Da taten die Söhne Israel, was böse war in den Augen des HERRN, und dienten den Baalim.
Mit den Ältesten, die das ganze Werk Jahwes gesehen hatten, sind die Leviten, die noch Fronarbeit geleistet und die Plagen in Ägypten miterlebt hatten und Josua überlebten, gemeint. Dass bei den Leviten die bei der Zählung am Sinai über 20-jährigen Männer nicht in der Wüste umkamen, habe ich in Abschnitt 8.1.5 ausführlich begründet. Dort hatte ich auch erläutert, dass diese Männer Josua nur um etwa 5 bis 15 Jahre überlebt haben dürften. Der Verfasser beginnt seinen Bericht also mit dem spätestens etwa 15 Jahre nach dem Tod Josuas allgemein verbreiteten Abfalls des Volkes von Jahwe, den er in den folgenden Versen noch detaillierter ausführt. Er setzt dann ab Ri 2,14 fort mit einer kurzen Zusammenfassung der Folgen, die dieser Abfall hatte. Ich zitiere Ri 2,14-16+19:
14 Da entbrannte der Zorn des HERRN gegen Israel, und er gab sie in die Hand von Plünderern, die sie ausplünderten. Und er verkaufte sie in die Hand ihrer Feinde ringsum, sodass sie vor ihren Feinden nicht mehr standhalten konnten. 15 Überall, wohin sie auszogen, war die Hand des HERRN gegen sie zum Bösen, ganz wie der HERR geredet und wie der HERR ihnen geschworen hatte; so waren sie sehr bedrängt. 16 Da ließ der HERR Richter aufstehen, die retteten sie aus der Hand ihrer Plünderer.
19 Und es geschah, sobald der Richter gestorben war, kehrten sie um und trieben es schlimmer als ihre Väter darin, anderen Göttern nachzulaufen, ihnen zu dienen und sich vor ihnen niederzuwerfen. Sie ließen nichts fallen von ihren Taten und von ihrem halsstarrigen Wandel.
Diese Verse – genauso wie die im vorausgehenden Zitat – bestehen nahezu ausschließlich aus einer geistlichen Beurteilung des Geschehens. Dies bestätigt meine These, dass hier ein Hohepriester am Werk war. Davon gehe ich daher für die weiteren Ausführungen aus. Der Verfasser dieser Verse blickt aus einer späteren Zeit zurück, als der Autor des vorausgehenden Berichtes. Er hatte nicht nur den Abfall des ganzen Volkes, sondern auch die Unterdrückung durch ausländische Herrscher und das Wirken von mehreren Richtern selbst miterlebt. Wie ich in Abschnitt 9.1.2.5 noch detailliert begründen werde, kann man annehmen, dass die 8-jährige Unterdrückung durch Kuschan-Rischatajim von Aram Naharajim, dem „Aram der zwei Ströme" jenseits des oberen Euphrat, etwa 15 Jahre nach dem Tod Josuas einsetzte. Die 40-jährige Amtszeit des Richters Otniël hätte dann 63 Jahre nach dem Tod Josuas geendet. Daran hätte sich eine erneute 18-jährige Unterdrückung durch Eglon von Moab angeschlossen, die 81 Jahre nach Josuas Tod von Ehud beendet wurde. Ehud besiegte die Moabiter und die mit ihnen verbündeten Ammoniter und Amalekiter so vollständig, dass im Ostjordanland für 80 Jahre Ruhe herrschte.
Aus dem Text ergibt sich aber nicht zwingend, dass Ehud so lange gelebt hat. Dass er 80 Jahre lang Richter war und alle folgenden Richter- und Unterdrückungszeiten erst danach eingeordnet werden müssen, kann sogar mit Sicherheit ausgeschlossen werden, da sonst die genannten Richter- und Unterdrückungszeiten vor Jeftah in der bis zu diesem reichenden 300-Jahres-Frist nicht schlüssig untergebracht werden könnten. Aus dem Kontext kann außerdem geschlossen werden, dass sich die 80 Jahre Ruhe nur auf das Ostjordanland bezogen. Warum auch sollte ein noch so überwältigender Sieg über die Moabiter und Ammoniter eine solch langanhaltende Auswirkung – auch über den Tod des siegreichen Heerführers hinaus – auf die Philister oder den König von Hazor haben? Innerhalb der 80 Jahre Ruhe im Ostjordanland sind im Westjordangebiet daher von hinten beginnend die 40 Jahre Frieden auch im Westjordangebiet nach dem Sieg Deboras und Baraks über Jabin von Hazor und die davorliegenden 20 Jahre Unterdrückung durch diesen einzuordnen.Für Ehud und Schamgar bleiben damit insgesamt nur 20 Jahre Richterzeit. Nach dem Tod des siegreichen Heerführers Ehud, der aus Benjamin im Westjordangebiet stammte (Ri 3,15), griffen die Philister Israel wahrscheinlich relativ zeitnah an, so dass Schamgar, der Ehud laut Ri 3,31 nachfolgte, schon in seinem ersten Richterjahr gegen sie kämpfen musste und sie besiegte. Von den 20 Jahren entfällt wahrscheinlich der größere Teil auf Schamgar, da über seinen Sieg gegen die Philister, noch vom zweiten Autor des Richterbuches berichtet wird. Nimmt man für Ehud – wie später bei Jeftah – 6 Jahre und für Schamgar 14 Jahre an, hätte Schamgar sein Richteramt 87 Jahre nach Josuas Tod angetreten.
Der Verfasser des zweiten Berichts des Richterbuches hat also noch gelebt, als Schamgar Richter wurde, und berichtet über die Zeit seit Beginn des Abfalls des Volkes von Jahwe. Dass Josua das Volk sechs Jahre nach der Jordan-Überschreitung in seine Erbteile entließ und dieses in den restlichen 19 Regierungsjahren Josuas sowie noch einige Jahre danach Jahwe diente, kann er von seinem Vater oder Großvater, die beide Augenzeugen dieses Geschehens waren, erfahren und ergänzend in dem schriftlich vorliegenden Buch Josua nachgelesen haben. Wie lange die Ruhe im Ostjordanland nach dem Sieg Ehuds dauerte, kann von einem späteren Hohepriester nachgetragen worden sein. Wenn er den Abfall von Jahwe noch selbst bewusst miterlebt hat, könnte man annehmen, dass er etwa fünf Jahre vor Josuas Tod geboren wurde und ein Alter von mindestens 93 Jahren erreicht hat. Damit kann er ein Sohn oder Enkel des bei Josuas Tod etwa 62- und fünf Jahre vorher demnach etwa 57-jährigen Pinhas gewesen sein. Da immer der älteste Sohn Hohepriester wurde, ist hier nicht das durchschnittliche Gebäralter der Frauen für die Ermittlung der durchschnittlichen Generationslänge relevant – beides habe ich für die Zeit in Ägypten mit etwa 29 Jahren ermittelt (siehe 5.6.2) –, sondern das Alter bei der Geburt des ersten Sohnes, das im Durchschnitt etwas niedriger war. Damit ist es sehr wahrscheinlich, dass der Verfasser des zweiten Berichtes des Richterbuches ein Enkel des Pinhas war.
Auf die Abfolge der Hohepriester in der Richterzeit gehe ich weiter unten noch ein. Zunächst möchte ich im nächsten Abschnitt die aus dem zweiten Bericht gewonnenen Erkenntnisse anhand der Topografie des Siedlungsgebietes der Zwölf Stämme bestätigen.