In Abschnitt 9.1.1.5 hatte ich eine Übersicht über den Gesamtrahmen der 480 Jahre vom Exodus bis zum Beginn des Tempelbaus im 4. Regierungsjahr Salomos vorgestellt (siehe Anlage 22a). Dort habe ich für die Zeit von der Eroberung Heschbons im Jahr vor der Jordan-Überschreitung bis zum 1. Regierungsjahr Jeftahs die in Ri 11,26 erwähnte 300-Jahres-Frist als Platzhalter eingesetzt. Lediglich für die letzten 63 Jahre dieser Frist ab dem Richter Tola habe ich in der Bemerkungsspalte die detaillierten chronologischen Daten aus Ri 10,1-18 angegeben, da diese für die Einordnung der Richterzeiten Simsons und Elis benötigt wurden. Die chronologischen Daten für Simson aus Ri 13 – 16 und Eli aus 1Sam 4,15-18 habe ich ebenfalls in die Bemerkungsspalte aufgenommen. Die Einordnung dieser beiden Richter parallel zu anderen genannten Richter- bzw. Unterdrückungszeiten habe ich in den Abschnitten 9.1.1.3 und 9.1.1.4 detailliert anhand der entsprechenden Bibelstellen begründet.
Da für die ersten beiden Zeiträume am Anfang der 300-Jahres-Frist im Bibeltext keine genauen chronologischen Daten vorliegen, beginne ich mit der Einordnung der biblisch genannten Zeiträume am Ende der 300 Jahre und schließe an die schon beschriebenen letzten 63 Jahre an. So können wir die Geschichte sozusagen von hinten aufrollen und erhalten mit dem verbleibenden Restzeitraum die fehlenden Angaben für die Länge der Regierungszeit Josuas und die darauffolgende Zeit ohne Regenten. Die 300 Jahre enden mit einer 18-Jährigen Unterdrückungszeit durch die Ammoniter im Ostjordanland. Vor dieser Zeit war der im Land Gilead im Ostjordanland wohnende Jaïr für 22 Jahre Richter. Seine Richterzeit schloss an die 23-jährige Richterzeit Tolas an. Mit diesen drei Angaben hatte ich die letzten 63 Jahre 300-Jahres-Frist abgesteckt. Unmittelbar vor Tola regierte der Gideon-Sohn Abimelech 3 Jahre als König (Ri 9,22; Ri 10,1). Dessen Regierungszeit wiederum schloss unmittelbar an die 40-jährige Richterzeit Gideons an (Ri 8,28). Gideon hatte in seinem ersten Jahr als Richter eine siebenjährige Unterdrückungszeit durch die Midianiter beendet (Ri 6,1). Damit haben wir die letzten 113 Jahre der 300-Jahresfrist erklärt. Der Beginn der Unterdrückung durch die Midianiter fiel somit auf das 188. Jahr der 300-Jahresfrist. Dieses entspricht dem (188 + 39 =) 227. Jahr der 480-Jahres-Frist, da bei dieser vor der Eroberung Heschbons noch 39 Jahre Wüstenwanderung vorgeschaltet sind.
Direkt davor liegt die 80-jährige Ruhezeit nach dem Sieg Ehuds über Moabiter und Ammoniter (Ri 3,30), die – wie in den beiden vorausgehenden Abschnitten begründet – nur auf das Ostjordangebiet zu beziehen ist. Im Gebiet westlich des Jordans gab es in der zweiten Hälfte dieser 80 Jahre ebenfalls eine hier nur 40-jährige Zeit der Ruhe (Ri 5,31), nachdem Debora und Barak den König von Hazor und seine 900 Streitwagen besiegt hatten. Der König von Hazor hatte davor den Norden und wahrscheinlich auch die Küstenebene im Süden für 20 Jahre beherrscht (Ri 4,2-3). Damit bleiben für die Richterzeiten Ehuds und seines Nachfolgers Schamgar zusammen noch 20 Jahre. Ich zitiere dazu Ri 3,30-31 nochmals im Zusammenhang:
30 So musste sich Moab an jenem Tag unter die Hand Israels beugen. Und das Land hatte achtzig Jahre Ruhe. 31 Und nach ihm war Schamgar, der Sohn Anats; und er schlug die Philister, sechshundert Mann, mit einem Viehtreiberstock. Und auch er rettete Israel.
Aus diesen Versen ergibt sich, dass Schamgar auf Ehud („ihm“) folgte und nicht auf die Ruhezeit von 80 Jahren. Aus Vers 30 kann auch nur abgeleitet werden, dass auf den Sieg Ehuds in seinem ersten Richterjahr 80 Jahre Ruhe in dem betroffenen Gebiet folgten, nicht aber wie lange seine Richterzeit währte. Ehud war der Anführer der Abordnung, die den Tribut an den König von Moab überbrachte (Ri 3,17-18). Für eine solche Aufgabe wurde üblicherweise eine ranghohe und erfahrene – und damit in der Regel schon ältere – Persönlichkeit ausgewählt. Eine lange Richterzeit ist daher nicht zu erwarten. In Abschnitt 9.1.2.3 hatte ich als weiteres Indiz für eine kurze Richterzeit Ehuds den großen Zeitraum, den der zweite Bericht im Richterbuch abdeckt, angeführt. Dieser beginnt mit dem Abfall der Israeliten nach dem Tod Josuas und seiner Generation und endete mit dem Sieg Schamgars über die Philister, den er wahrscheinlich in seinem ersten Richterjahr errang. Deshalb habe ich dort vorgeschlagen, die 20 Jahre, die sich als sichere Schlussfolgerung aus den übrigen Zahlen ergeben, in 6 Jahre für Ehud (wie bei Jeftah) und 14 Jahre für Schamgar aufzuteilen. Diese Schätzung hat aber keinen Einfluss auf den Gesamtrahmen, da dort die parallel liegende 80-jährige Ruhezeit relevant ist.
Vor dem Sieg Ehuds und damit dem Beginn der 80-jährigen Ruhezeit lag die 18-jährige Fremdherrschaft durch Eglon von Moab (Ri 3,14). Diese begann (113 + 80 + 18 =) 211 Jahre vor Ende der 300-Jahres-Frist im (188 – 80 – 18 =) 90. Jahr dieser Frist, das dem 129. Jahr der 480-Jahres-Frist entspricht. Zu diesem Zeitpunkt endete die 40-jährige Richterzeit Otniëls.1 In seiner Zeit hatte das Land für 40 Jahre Ruhe bis Otniël starb (Ri 3,11). Wahrscheinlich hat Eglon von Moab den Tod des etablierten Richters Otniël abgewartet für seinen Angriff. Laut Ri 3,12 taten die Söhne Israel nach dessen Tod weiter, was böse war, woraus geschlossen werden kann, dass sie es auch schon gegen Ende seiner Richterzeit getan hatten. Damit kann die folgende Fremdherrschaft unmittelbar an die 40 Jahre Otniëls angeschlossen werden. Dieser hatte in seinem ersten Richter-Jahr den König Kuschan-Rischatajim von Aram Naharajim nach dessen 8-jähriger Herrschaft in Israel geschlagen (Ri 3,8-10). Diese erste Fremdherrschaft in Israel begann somit (211 + 40 + 8 =) 259 Jahre vor Ende der 300 Jahre im (90 – 40 – 8 =) 42. Jahr dieser Frist bzw. im 81. Jahr der 480-Jahres-Frist.
Damit können die letzten 259 Jahre der 300-Jahres-Frist lückenlos erklärt werden. Es bleibt nur noch ein Rest von 41 Jahren, von denen aufgerundet 1 Jahr zwischen der Eroberung Heschbons und der Jordan-Überquerung und 6 Jahre bis zu Landverteilung unter Josua ebenfalls aus dem Bibeltext erklärt werden können. Dies reduziert den Rest auf 34 Jahre. Wenn wir davon die von Josephus überlieferte Regierungszeit Josuas von 19 Jahren nach der Landverteilung abziehen, bleiben nach dem Tod Josuas noch – wie schon in Abschnitt 9.1.2.3 angenommen – 15 Jahre, in denen es weder einen Richter noch einen Fremdherrscher in Israel gab. In diesen Zeitraum können die beiden Anhänge an das Richterbuch über die Landsuche von Mitgliedern des Stammes Dan (Ri 17 – 18) und die Strafaktion gegen Benjamin (Ri 19 – 21) eingeordnet werden. In diesen beiden Berichten wird viermal erwähnt, dass es in dieser Zeit keinen Regenten – meist wird hier zu eng mit „König“ übersetzt (siehe 9.1.1.2) – in Israel gab (Ri 17,6; Ri 18,1; Ri 19,1; Ri 21,25).
Ich nehme an, dass die Strafaktion gegen Benjamin, die auf ein bei den übrigen elf Stämmen überwiegend noch vorhandenes starkes Rechtsempfinden schließen lässt, schon recht zeitnah nach Josuas Tod stattfand, als die Josua überlebenden Leviten, die Jahwes Handeln vom Auszug in Ägypten an noch miterlebt hatten (siehe 8.1.5), noch maßgeblichen Einfluss hatten. So kurz nach den unmittelbar nach Josuas Tod durchgeführten Eroberungskriegen (Ri 1,1-2) waren auch die Soldaten noch schnell reaktivierbar. Ursache für die Strafaktion war eine in der Benjaminiter-Stadt Gibea verübte Gräueltat an der Frau eines durchreisenden Leviten (Ri 20,4-5). Die Stadt Gibea lag in unmittelbarer Nachbarschaft zu der Kanaaniter-Stadt Gibeon, die im ersten Jahr nach der Jordan-Überschreitung einen Bund mit den Israeliten erschlichen hatten, indem sie sich als weit entfernt lebende Bewunderer Jahwes ausgaben (Jos 9,3-6+9+15). Aus den Zahlenangaben zur Größe des Heeres der Benjaminiter kann man schließen, dass die Einwohner von Gibea militärische Unterstützung von ihren kanaanitischen Nachbarn aus Gibeon und Umgebung erhielten. Wahrscheinlich hatten sie sich – nachdem durch den erschlichenen Bund der Gibeoniter mit den Israeliten die Feindschaft aufgehoben war – mit diesen verschwägert und waren dadurch schon früher von Jahwe abgefallen als die übrigen Israeliten. Trotzdem solidarisierten sich ihre Stammesgenossen mit ihnen, was zu der Strafaktion gegen den ganzen Stamm Benjamin führte (Ri 19 – 21; siehe 4.3.1). Vor diesem Hintergrund schätze ich, dass die Strafaktion nach Abschluss der erneuten Eroberungskriege etwa im dritten Jahr nach dem Tod Josuas, das dem 29. Jahr der 300-Jahres-Frist bzw. dem 68. Jahr der 480-Jahres-Frist entspricht, stattfand (siehe 4.3 und 8.3.1.1).
In dem vor dem Bericht über die Strafaktion eingeordneten weiteren Anhang an das Richterbuch (Ri 17 – 18) wird über die Landsuche eines Teils des Stammes Dan berichtet, der das ihm zugeteilte Land in der Küstenebene nicht erobern konnte (Ri 18,1, siehe Anlage 6a). In Ri 17 wird sozusagen als Vorspann berichtet, wie es dazu kam, dass der Levit, den die Stammesangehörigen Dans in der Folge mit sich in den Norden nahmen, als Götzenpriester eines einzelnen Mannes im Bergland Ephraim diente. Die Landsuche der Männer aus Dan dürfte sich unmittelbar an die nach Josuas Tod durchgeführten Eroberungskriege – die im Fall Dans nicht erfolgreich waren – angeschlossen haben. Die Einordnung dieses Berichts vor der Schilderung der Strafaktion gegen Benjamin könnte außerdem ein Hinweis darauf sein, dass die Landsuche Dans vor der Strafaktion stattgefunden hat. Ich nehme daher an, dass sich die Landsuche der Stammesangehörigen Dans im zweiten Jahr nach Josuas Tod, d.h. im 67. Jahr der 480-Jahres-Frist ereignete. Beide Anhänge können somit wie in Abschnitt 9.1.2.2 vorgeschlagen dem zu dieser Zeit amtierenden Hohepriester Pinhas als Verfasser zugeordnet werden.
In Anlage 22b habe ich die vorstehend erläuterte Einordnung der Regierungszeiten von Richtern und Fremdherrschern sowie die genannten Ruhezeiten und die sonstigen geschilderten Ereignisse innerhalb der 300 Jahre in ihrer chronologischen Reihenfolge aufsteigend tabellarisch dargestellt. Die Anlage ist genauso aufgebaut wie Anlage 22a (Beschreibung der Spalteninhalte siehe 9.1.1.5). Zur besseren Vergleichbarkeit habe ich die gleiche Jahreszählung ab Exodus wie in Anlage 22a verwendet. Die Jahreszählung beginnt also mit dem Jahr 40, da die Eroberung Heschbons mit der die 300-Jahres-Frist beginnt, rund 39 Jahre nach dem Exodus stattfand. Sie endet entsprechend mit dem Jahr 339 ab Exodus. Daneben habe ich zusätzlich die Jahreszahlen v. Chr. eingetragen, die sich aus der von Thiele vertretenen Chronologie der Königszeit ergeben.
Um mein in den Anlagen 22a und 22b dargestelltes chronologisches Modell der 480-Jahres-Frist weiter zu bestätigen, werde ich im nächsten Abschnitt versuchen, die in dieser Zeit amtierenden Hohepriester in diesen Rahmen einzusortieren und die weiteren Berichte des Richterbuches ungefähr einem dieser Hohepriester zuzuordnen.
1 In Ri 3,9 findet sich zu dem Richter Otniël die Aussage: „Otniël, Sohn des Kenas, Bruder Kalebs, der jünger war als er“. Zu Kaleb werden in Jos 14,14 folgende Verwandtschafts-Angaben gemacht: „Kaleb, dem Sohn des Jefunne, dem Kenasiter“. Dazu muss man wissen, dass das hebräische Wort für „Sohn“ auch „Nachkomme“ bedeuten kann. Ebenso kann das mit „Bruder“ übersetzte Wort auch „Neffe“ oder „Cousin“ oder einfach „Angehöriger seiner Sippe“ bedeuten. Wahrscheinlich hieß Kalebs Vater „Jefunne“ und sein Vorfahr, der die Sippe der Kenasiter begründet hatte, „Kenas“. Bei Otniël ist nur der Sippenbegründer „Kenas“ als Vorfahr genannt. Die Aussage „der Bruder Kalebs“ bezieht sich deshalb auf Otniël und nicht auf Kenas und meint, dass Otniël der gleichen Sippe angehörte wie Kaleb. Da Kaleb bei der Landverteilung 6 Jahre nach der Jordan-Überschreitung im 46. Jahr ab Exodus schon 85 Jahre alt war, wäre er im 129. Jahr, in dem Otniëls 40-jährige Richterzeit mit seinem Tod endete, 168 Jahre alt gewesen. Wenn Otniël ein Alter von z.B. 104 Jahren erreicht hätte (Amtsantritt als Richter mit 64 Jahren), wäre er 64 Jahre Jahre jünger als Kaleb gewesen und in dessen Enkel-Generation einzuordnen. Er könnte dann ein „Bruder“ im Sinne von „Großneffe“ Kalebs – oder, da Kenas als einziger Vorfahr erwähnt wird, einfach ein Angehöriger der Sippe der Kenasiter dieser Generation – gewesen sein. Der Zusatz „der jünger war als er“ ist daher wohl Im Sinne „der einer jüngeren Generation angehörte“ zu verstehen. Wahrscheinlich handelt es sich bei dem in Jos 15,17 und Ri 1,13 erwähnten jüngeren Sippenangehörigen Otniël mit der identischen Verwandtschaftsbezeichnung „Sohn des Kenas, Bruder Kalebs, der jünger war als er“ um den späteren Richter. Hier wird berichtet, dass er als Belohnung dafür, dass er gegen Ende des 6-jährigen Eroberungsfeldzuges die Stadt Kirjat-Sefer eroberte, die Tochter Kalebs zur Frau erhielt. Wenn er bei dieser Heldentat 21 Jahre alt war, wäre er bei seinem Tod im Jahr 129 ab Exodus wie oben im Beispiel genannt 104 Jahre alt gewesen.