In 2Mose 1,15+16 wird von der Anweisung des Pharao, alle männlichen Neugeborenen umzubringen, berichtet:
15 Und der König von Ägypten sprach zu den hebräischen Hebammen, von denen die eine Schifra und die andere Pua hieß, 16 und sagte: Wenn ihr den Hebräerinnen bei der Geburt helft und bei der Entbindung seht, dass es ein Sohn ist, dann tötet ihn, wenn es aber eine Tochter ist, dann mag sie am Leben bleiben.
Diese Anweisung erfolgte kurz vor der Geburt Moses also etwa 80 Jahre vor dem Exodus bzw. im 135. Ägyptenjahr. Wegen des biblischen Kontextes wird allgemein angenommen, dass mit dieser Maßnahme ebenso wie mit der unmittelbar davor berichteten Einführung der Fronarbeit die Vermehrung des Volkes gebremst werden sollte. Josephus benennt jedoch einen anderen Grund für den Tötungsbefehl für die männlichen Neugeborenen:
Einer von ihren Schriftkundigen (denn diese waren in der Vorhersagung der Zukunft bewandert) weissagte dem König, es werde um jene Zeit aus hebraeischem Blute ein Knabe geboren werden, der, wenn er erwachsen sei, die Herrschaft der Aegyptier vernichten, die Israëliten hingegen mächtig machen werde. An Tugend werde er besonders hervorragen, und sein Andenken werde ein ruhmvolles sein. Durch diesen Spruch wurde der König erschreckt und er befahl, alle israëlitischen Jungen gleich nach der Geburt in den Fluss zu werfen und zu töten.1
Dass die Geburt eines Retters der Israeliten erwartet wurde, würde den Befehl, nur die Jungen zu töten, sehr viel besser erklären, als das Ziel die Vermehrung zu bremsen. In einer Gesellschaft, in der ein Mann mehrere Frauen nehmen konnte, würde die Tötung nur der Jungen nämlich langfristig die Vermehrung nicht nachhaltig bremsen. Außerdem hätte der Pharao dadurch die Zahl seiner Arbeitskräfte vermindert, die er nachdem die Fronarbeit erst einmal eingeführt war, durchaus zu schätzen wusste. Dies zeigt sich am Widerstand eines späteren Pharao gegen den Auszug des Volkes und die Aussage, mit der er ihre Verfolgung begründet: „Was haben wir da getan, dass wir Israel aus unserem Dienst haben ziehen lassen!“ (2Mose 14,5). Um die Vermehrung zu bremsen, wäre es sehr viel sinnvoller gewesen, einen größeren Teil der Mädchen zu töten oder zu deportieren (z.B. zum Verkauf als Sklavinnen in andere Landesteile oder ins Ausland) und die Jungen als Arbeitskräfte am Leben zu lassen.
Bei genauerem Hinsehen sagt der biblische Bericht auch gar nicht aus, dass die Tötung der Jungen die Reduzierung der Vermehrung zum Ziel hatte. Als Maßnahme des Pharao, die die Vermehrung bremsen sollte, wird in 2Mose 1,10-11 die Einführung der Fronarbeit genannt. Und als diese das Wachstum nicht im geringsten bremste, wurde als Reaktion der Arbeitsdruck so stark erhöht, dass den Israeliten das Leben verbittert wurde. (2Mose 2,12-14). Eine Aussage darüber, ob diese zweite Maßnahme gewirkt hat, wird im Text nicht gemacht. Ab dem folgenden Vers wird dann – ohne Angabe einer Begründung für diese Maßnahme – von der Tötung der männlichen Neugeborenen berichtet (2Mose 1,15-22). Die Begründung dafür liefert der jüdische Historiker Josephus, der vor 1.950 Jahren wohl noch Zugang zu anderen Quellen oder Traditionen hatte, die die Begründung für dieses noch etwa weitere 1.500 Jahre zurückliegende Geschehen überliefert hatten. Mit dem Bericht über die Tötung der Jungen in Vers 15 würde dann ein neuer Sinnabschnitt beginnen, der durchaus einen mehrjährigen Zeitabstand zum vorausgehenden Bericht haben könnte.
Dass die Israeliten einen Befreier brauchten, der sie mächtig macht, würde ebenfalls darauf hinweisen, dass sie zum Zeitpunkt der Prophezeiung schon vollständig unterworfen waren. Auch der Bericht über die Umsetzung des Tötungsbefehls durch die Ägypter in 2Mose 1,22 lässt darauf schließen, dass eine Infrastruktur von Fronaufsehern und Wachsoldaten im Gebiet der Israeliten schon etabliert war. Daraus folgt, dass die Fronarbeit schon einige Jahre vor der Geburt Moses begonnen haben muss. Eine große Anzahl von Jahren dürfte es aber nicht gewesen sein, da dann noch keine so starke Vermehrung vorgelegen hätte, dass der Pharao sich zum Eingreifen gezwungen sah. In Abschnitt 5.7.1 bin ich davon ausgegangen, dass die Fronarbeit etwa 10 Jahre vor der Geburt Moses und damit 90 Jahre vor dem Exodus begann.
Wenn der Befehl, die neugeborenen Jungen zu töten, die Tötung eines in dieser Zeit erwarteten Befreiers der Israeliten zum Ziel hatte, dürfte er zeitlich auf etwa ein bis maximal zwei Jahre befristet gewesen sein. Eine längere Zeitspanne hat auch der für seine Skrupellosigkeit bekannte Herodes beim Kindermord in Bethlehem zur sicheren Tötung des angekündigten neuen Königs nicht angeordnet (Mt 2,16). Betroffene Familien konnten anschließend weitere Kinder bis zur gewünschten Kinderzahl bekommen, wodurch die folgenden Jahrgänge stärker geworden wären. Außerdem bestand die Möglichkeit, dass Männer mehrere Frauen nehmen konnten, so dass später ein eventueller geringer Frauenüberschuss bei dem betroffenen Jahrgang aufgefangen werden konnte. Die Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung dürften daher 80 Jahre später beim Exodus kaum mehr spürbar gewesen sein.