Wie in Abschnitt 9.1 schon erwähnt, werden in Ri 12,7-15 die Namen von vier Richtern und ihre Regierungszeiten aufgeführt:
7 Und Jeftah richtete Israel sechs Jahre. Und Jeftah, der Gileaditer, starb und wurde in einer der Städte Gileads begraben. 8 Und nach ihm richtete Israel Ibzan von Bethlehem. 9 Und er hatte dreißig Söhne. Dreißig Töchter entließ er nach auswärts, und dreißig Töchter holte er von auswärts für seine Söhne herein. Und er richtete Israel sieben Jahre. 10 Und Ibzan starb und wurde in Bethlehem begraben. 11 Und nach ihm richtete Israel Elon, der Sebuloniter. Er richtete Israel zehn Jahre. 12 Und Elon, der Sebuloniter, starb und wurde in Ajalon im Land Sebulon begraben. 13 Und nach ihm richtete Israel Abdon, der Sohn Hillels, der Piratoniter. 14 Und er hatte vierzig Söhne und dreißig Enkel, die auf siebzig Eseln ritten. Und er richtete Israel acht Jahre. 15 Und Abdon, der Sohn Hillels, der Piratoniter, starb und wurde in Piraton begraben, im Land Ephraim, auf dem Amalekiterberg.
Aus diesem Bericht ergibt sich, dass die vier genannten Richter nacheinander regierten. Da Jeftahs Regierungszeit nach seiner in Ri 11,26 überlieferten Aussage 300 Jahre nach der Eroberung Heschbons (39 Jahre nach dem Exodus) begann, endet Abdons Regierungszeit (39 + 300 + 6 + 7 + 10 + 8 =) 370 Jahre nach dem Exodus. Es ist aber nicht ausgesagt, welcher Richter auf Abdon folgte. Wie in Abschnitt 9.1.1.1 begründet gehe ich davon aus, dass sich hier eine 26-jährige Richterzeit Samuels anschloss, auf die dann die Regierungszeit Sauls folgt. Darüber wird im 1. Samuel-Buch berichtet.
Im Richterbuch geht der Bibeltext in Ri 13,1-3 mit der Ankündigung der Geburt Simsons weiter:
1 Und die Söhne Israel taten weiter, was böse war in den Augen des HERRN. Da gab sie der HERR vierzig Jahre in die Hand der Philister. 2 Da war nun ein Mann aus Zora, von einer Sippe der Daniter, sein Name war Manoach. Seine Frau aber war unfruchtbar und gebar nicht. 3 Und der Engel des HERRN erschien der Frau und sprach zu ihr: Sieh doch, du bist unfruchtbar und gebierst nicht; aber du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären.
Anders als bei den sehr knappen Angaben zu den drei Richtern in Ri 12,8-15 folgt dieser Geburtsankündigung eine über drei Kapitel reichende Schilderung des Lebens Simsons und seiner 20-jährigen Richterzeit inklusive einer detaillierten Beschreibung seines Todes. Im Anschluss an diesen Bericht folgen in Ri 17 – 21 zwei weitere Berichte, die ganz zweifellos Anhänge darstellen, die nicht chronologisch auf den Simson-Bericht folgen, sondern viel früher einzuordnen sind. Der Bericht über die Strafaktion gegen Benjamin (Ri 19 – 21, siehe 4.3) kann durch das Auftreten von Pinhas, dem Sohn Eleasars und Enkel Aarons (Ri 20,28), in die Zeit kurz nach dem Tod Josuas eingeordnet werden. In die gleiche Zeit dürfte auch der Bericht über die Suche eines Teils des Stammes Dan nach einem Siedlungsgebiet im Norden und den von ihnen mitgeführten Götzenpriester (Ri 17 – 18) einzuordnen sein, weil der Stamm Dan sein ihm zugeteiltes Gebiet nicht vollständig erobern konnte und die Stammesangehörigen ja irgendwo wohnen mussten.
In beiden Berichten steht je zweimal der Hinweis, dass es zu dieser Zeit keinen מֶלֶךְ (MäLäKh, übliche Übersetzung: „König“) in Israel gab (Ri 17,6; Ri 18,1; Ri 19,1; Ri 21,25). Da es bis auf die drei Jahre Abimelechs in der gesamten Richterzeit keinen König gab, würde diese Aussage bei der üblichen Übersetzung von מֶלֶךְ (MäLäKh) mit „König“ nichts zu einer Datierung der berichteten Ereignisse beitragen. Weil mit dieser Aussage aber offensichtlich eine Datierungsabsicht verfolgt wurde, stellt sich die Frage, ob in diesem Zusammenhang für den Begriff מֶלֶךְ (MäLäKh) die Übersetzung „König“ in unserem heutigen Sinne – ein gekröntes Haupt mit einem größeren Regierungsbereich (meist ein ganzes Volk) und einer entsprechenden Administration sowie in der Regel auch einem erblichen Königtum – korrekt ist. In Jos 8,14 wird z.B. das Stadtoberhaupt der kanaanitischen Stadt Ai, die in Friedenszeiten wahrscheinlich kaum mehr als 850 Einwohner hatte (siehe 4.4.3), als מֶלֶךְ (MäLäKh, übliche Übersetzung: „König“) bezeichnet. Hier ist der Regierungsbereich sehr klein. Und in 1Mose 36,31 werden Stadtfürsten der Edomiter, die nach dem Tod des vorhergehenden Herrschers mit der Regierung des ganzen Landes Edom betraut wurden (1Mose 36,32-39), ebenfalls als מֶלֶךְ (MäLäKh) bezeichnet. Die Herrschaft wechselte dabei zwischen den Fürsten verschiedener Städte. Es handelt sich daher offensichtlich nicht um ein erbliches Königtum, sondern um eine Wahlmonarchie. Der Begriff מֶלֶךְ (MäLäKh) könnte in dieser frühen Zeit somit ein Oberbegriff gewesen sein, der sowohl Könige über größere Regierungsbereiche mit einem erblichen Herrschaftsanspruch als auch alle anderen Personen mit Regierungsverantwortung (= Regenten) wie z.B. die Richter Israels einschloss. Erst später, als sich sowohl in den umliegenden Ländern als auch in Israel größere Reiche mit einem erblichen Königtum etabliert hatten, dürfte der Wortbegriff von מֶלֶךְ (MäLäKh) in Israel auf „König“ in diesem Sinne eingeschränkt worden sein. Vorher muss aus dem Zusammenhang erschlossen werden, ob ein Regent im weiteren Sinn oder ein König im engeren Sinn gemeint war. Übersetzt man מֶלֶךְ (MäLäKh) in Ri 17,6; Ri 18,1; Ri 19,1 und Ri 21,25 jeweils im weiteren Sinne als Regent wären die beiden Anhänge an das Richter-Buch auf die Zeit kurz nach dem Tod Josuas und vor dem erst einige Jahre später auftretenden ersten Richter Otniël (Ri 3,9) zu datieren. Die Datierungsangabe, dass es „in dieser Zeit keinen Regierenden (oder Regenten) gab“, würde dann die – sich auch aus anderen Merkmalen ergebende – oben vorgeschlagene Einordnung der beiden Berichte Ri 17 – 18 und Ri 19 – 21 in diese frühe Zeit bestätigen.
Der Bericht über Simson, der diesen beiden Berichten unmittelbar vorausgeht, könnte ebenso ein solcher Anhang sein, der in den vorausgehenden chronologisch geordneten Bericht von Ri 1 – 12 einzuordnen wäre.1 Dann würde die in 1Kön 6,1 ohne jede Einschränkung gemachte Aussage, dass zwischen dem Auszug aus Ägypten und dem Beginn des Tempelbaus durch Salomo genau 480 Jahre lagen, zu den chronologischen Angaben im Richterbuch passen. Der Simson-Bericht enthält aber nicht den Hinweis, dass es in seiner Zeit keinen Regenten gab. Er könnte also auch deutlich später eingeordnet werden als die beiden übrigen Anhänge. Die Frage ist nun, wo er zeitlich eingeordnet werden könnte, ohne dass es zu Widersprüchen zu den Berichten in Ri 1 – 12 kommt. Dies untersuche ich im nächsten Abschnitt.