Ein weiterer wichtiger Faktor für das Wachstum der Bevölkerung der Israeliten in Ägypten ist die Anzahl der Kinder, die eine Frau damals durchschnittlich geboren hat. Zu dieser Fragestellung zitiere ich zunächst aus der Einleitung eines Artikels zum Thema Fertilität und Geburtenentwicklung von Rainer Münz aus dem Jahr 2007 (Hervorhebung mit Fettdruck durch M.K.):
Derzeit kommen pro Jahr etwa 135 Millionen Kinder auf die Welt. Die Zahl der Geburten in einem bestimmten Land hängt zum einen von der Zahl der gebärfähigen Frauen und zum anderen – ganz wesentlich – von der durchschnittlichen Zahl der Kinder pro Frau ab. Bevölkerungswissenschaftler bezeichnen diese durchschnittliche Kinderzahl als Fertilität, Fertilitätsrate oder Gesamtfruchtbarkeitsziffer, englisch Total Fertility Rate (TFR). Die TFR gibt für eine bestimmte Region, ein Land oder einen Kontinent an, wie viele Kinder eine dort lebende Frau durchschnittlich im Laufe ihres Lebens zur Welt bringen würde, wenn die in einem Zeitraum aktuellen altersspezifischen Geburtenraten über ihre gesamten fruchtbaren Lebensjahre (meist wird vom 15. bis zum 49. Lebensjahr ausgegangen) konstant blieben. Diese Perioden-Fertilität lässt sich aus der Altersverteilung der Mütter eines Zeitraumes berechnen. Für Generationen von Frauen, die sich überwiegend nicht mehr im gebärfähigen Alter befinden, lässt sich rückblickend eine Generationen-Fertilität errechnen. Im Zusammenspiel mit der Mortalität und der Migration bestimmt die Fertilität, wie viele Menschen eine Region, ein Land oder einen Kontinent bevölkern (Weltbevölkerungswachstum).
Die Fertilität lag im Weltdurchschnitt bis zur Mitte der 1960er Jahre konstant bei etwa 5 Kindern pro Frau. Danach begann sie zu sinken, aktuell bis auf den Wert von 2,5 Kindern. Die TFR ging zunächst in den Industrie- dann auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern zurück. Dabei unterschritten die meisten Industrieländer schon in den 1970er Jahren die „magische Schwelle“ von 2,1 Kindern pro Frau. Bei dieser Fertilitätsrate ersetzt sich jede Generation selbst – die einheimische Bevölkerungszahl bleibt stabil. Dieses Ersatzniveau von 2,1 Kindern je Frau liegt über den zunächst zu erwartenden zwei Nachkommen von zwei Menschen, einer Frau und ihrem Partner, weil nicht alle Neugeborenen ihrerseits ein Alter erreichen, in dem sie selbst Kinder bekommen können.1
Bei den Israeliten in Ägypten versuche ich im Rückblick die tatsächlich realisierte Kinderzahl je Frau abzuschätzen. Deshalb verwende ich im Folgenden den Begriff „Fertilitätsrate“ im Sinne der im Zitat beschriebenen Generationen-Fertilität. Da eine Frau etwa in der Altersspanne von 15 bis 49 Jahren, also ca. 34 Jahre, fruchtbar ist, könnte sie unter optimalen Bedingungen 15 oder sogar mehr Kinder gebären. Im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung eines Volkes waren es jedoch zu allen Zeiten weit weniger Kinder pro Frau. Selbst in Afrika, dem Kontinent mit der höchsten Fertilitätsrate, wurden in der Zeit von 1950 bis 1980 – vor dem Einsetzen des allgemeinen Rückgangs der Fertilitätsrate – durchschnittlich weniger als sieben Kinder je Frau geboren.2 Trotz der für Israel berichteten überaus starken Vermehrung in Ägypten (2Mose 1,7), dürfte auch dort keine wesentlich höhere Fertilitätsrate vorgelegen haben. Dass aber auch schon mit einer Kinderzahl je Frau in dieser Größenordnung ein großes Bevölkerungswachstum möglich ist, zeigt die Entwicklung in Afrika in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Dort ging durch die Verbesserung der medizinischen Versorgung und der hygienischen Verhältnisse die Sterblichkeit (insbesondere auch die Mütter- und Kindersterblichkeit) stark zurück. Da die Fertilitätsrate aber zunächst hoch blieb, kam es in vielen afrikanischen Ländern zu sehr hohen Bevölkerungswachstumsraten (siehe 5.6). Bei günstigen Rahmenbedingungen für das Erreichen eines hohen Lebensalters (siehe 5.2.3ff) und einer entsprechend niedrigen Sterblichkeit (siehe 5.2.4) konnten daher auch die Israeliten mit einer moderaten Kinderzahl je Frau dauerhaft hohe Wachstumsraten erreichen.
Zerbst hat die „Kinderzahl je Mutter“ als ein Kriterium für eine Plausibilitätsprüfung für die verschiedenen Erklärungsmodelle zur Entstehung der großen Zahlen vorgeschlagen.3 Hier werden Frauen, die keine Kinder geboren haben, nicht mitgerechnet, so dass diese Kennzahl bei gleichen Geburtenzahlen etwas höher ist, als die oben beschriebene Fertilitätsrate, bei der die Geburten zu allen Frauen einer Generation ins Verhältnis gesetzt werden. Entsprechend verwendet er die Kennzahl „Kinderzahl je Mutter“ auch für die Prüfung seines eigenen Modells.4
In den nächsten beiden Abschnitten versuche ich aus zwei AT-Berichten, die über die Kinderzahl der Nachkommen Jakobs berichten, Schlüsse auf eine ungefähre Größenordnung der damals vorliegenden Fertilitätsrate bei den Israeliten zu ziehen. Da dort keine kinderlosen Frauen erwähnt werden, kann nur die Kinderzahl je Mutter ermittelt werden. Die Fertilitätsrate (= Kinderzahl je Frau) des Gesamtvolkes, bei der auch kinderlose Frauen berücksichtigt werden, war daher wahrscheinlich noch etwas niedriger als die nachfolgend ermittelten Kennzahlen.
1 Rainer Münz: Fertilität und Geburtenentwicklung (2007, aktualisiert durch Mitarbeiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, 2013), Url: https://docplayer.org/22489253-Fertilitaet-und-geburtenentwicklung.html , (Aufruf: 18.01.2022)
2 Vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Bevölkerungsentwicklung in Afrika, Url: https://www.berlin-institut.org/themen/international/bevoelkerungsentwicklung-in-afrika , Grafik: „Durchschnittliche Kinderzahl je Frau in unterschiedlichen Weltregionen, 1950 bis 2021“ (Aufruf: 18.01.2022)