Das Richterbuch beginnt in Ri 1,1-2 mit einer Anknüpfung an den Tod Josuas:

1 Und es geschah nach dem Tod Josuas, da befragten die Söhne Israel den HERRN und sagten: Wer von uns soll zuerst gegen die Kanaaniter hinaufziehen, um gegen sie zu kämpfen? 2 Und der HERR sprach: Juda soll hinaufziehen. Siehe, ich habe das Land in seine Hand gegeben.

Laut Jos 24,29 starb Josua im Alter von 110 Jahren. Wie lange er als Nachfolger Moses das Volk angeführt hatte, ist allerdings in der Bibel nicht überliefert. Der jüdische Historiker Josephus berichtet aber im 1 Jh. n. Chr., dass Josua nach Moses Tod noch 25 Jahre den Oberbefehl über Israel gehabt habe, ehe er starb.1 Dies passt auch gut zum Kontext (siehe ‎4.3). Als Josua starb – Tod und Begräbnis werden in Jos 24,29-30 berichtet –, war wahrscheinlich noch Eleasar, der Sohn Aarons Hohepriester, da über seinen Tod und sein Begräbnis erst einige Verse später in Jos 24,33 berichtet wird. Dieser war es daher wahrscheinlich, der für die Krieger Jahwe befragte, wer zuerst gegen die Kanaaniter kämpfen sollte. Da er aber schon bei seiner Einsetzung als Priester am Sinai mindestens 27 Jahre alt2 gewesen sein dürfte, war er, als Josua starb, mindestens 91 Jahre alt. Schon während der Strafaktion gegen den Stamm Benjamin, die wenige Jahre nach dem Tod Josuas stattfand (siehe ‎4.3), war sein Sohn Pinhas Hohepriester. Er befragte im Auftrag der Vertreter der elf übrigen Stämme Jahwe, ob sie nach zwei Niederlagen gegen den Stamm Benjamin diesen ein drittes Mal angreifen sollten (Ri 20,27-28). Deshalb war es wahrscheinlich eher Pinhas, der den ersten Abschnitt des Richterbuches von Ri 1,1 bis Ri 2,1-5 niedergeschrieben hat. Dieser enthält in Ri 1 den Bericht über die Ergebnisse der auf den Tod Josuas folgenden Befragung Jahwes und die anschließenden Eroberungskriege und die genaue Auflistung der nicht eroberten Gebiete sowie in Ri 2,1-5 ein Gerichtswort eines Engels Jahwes. 

Den ersten Teil dieses Berichts möchte ich etwas genauer untersuchen, da darin erstens eine konventionell falsch gedeutete Zahl vorkommt und zweitens eine Rückblende zu den ersten Eroberungskriegen unter Josua, die einer Erklärung bedarf. Nachdem der Stamm Juda von Jahwe den Auftrag erhalten hatte, zuerst hinaufzuziehen, baten sie den Stamm Simeon mit ihnen zu ziehen. Beim ersten Eroberungsfeldzug 25 Jahre zuvor unter Josua hatten Juda 3.000 und Simeon 1.000 Mann gestellt (siehe ‎4.2.1). Da sich bei der Strafaktion gegen Benjamin für das gesamte israelische Heer eine ungefähr gleiche Größenordnung ergibt (siehe ‎4.3.1) wie bei dem Eroberungsfeldzug unter Josua, dürfte auch bei diesem zweiten Eroberungsfeldzug wenige Jahre vor der Strafaktion das vereinigte Heer von Juda und Simeon eine Größe von etwa 4.000 Mann gehabt haben. Zuerst besiegten sie bei Besek ein kanaanitisches Heer und töteten dabei 10 ÄLäPh Mann (Ri 1,4). Hier kann wie bei der Strafaktion gegen Benjamin eine Angabe in 50er-Einheiten angenommen werden, so dass sich (10 x 50 =) 500 getötete Kanaaniter ergeben. Das ursprüngliche Heer war sicher deutlich größer, konnte sich aber wahrscheinlich nach seiner Niederlage in die Stadt Besek zurückziehen. Gegen diese Stadt kämpften Juda und Simeon anschließend und schlugen sie ebenfalls und nahmen ihren Herrscher Adoni-Besek gefangen. Anschließend wurde Jerusalem erobert und zerstört (Ri 1,5-8). Da aber die rundum lebenden Jebusiter von den Söhnen Benjamins nicht dauerhaft vertrieben werden konnten (Ri 1,21), werden sie ihre Hauptstadt später wiederaufgebaut und besser befestigt haben. Erst unter David konnte sie dann erneut erobert und dauerhaft von den Israeliten in Besitz genommen werden. Über den weiteren Kriegszug wird in Ri 1,9 zunächst nur in einem zusammenfassenden Satz berichtet.

In Ri 1,10-16 wird dann in einer Rückblende der Bericht aus Jos 15,13-19 über die Eroberung Hebrons (früher Kirjat Arba) und Debir (früher Kirjat Sefer) beim ersten Eroberungsfeldzug wiederholt. Dabei waren unter Kaleb die drei Enaks-Söhne Scheschai, Ahiman und Talmai getötet worden. Otniël hatte für die Eroberung Debirs die Tochter Kalebs zur Frau erhalten. Wahrscheinlich war er als Schwiegersohn Kalebs und erwiesenermaßen erfolgreicher Anführer inzwischen einer der Heerführer Judas und vielleicht auch der Augenzeuge, der Pinhas über den Eroberungszug Judas berichtete. Dies würde die Aufnahme dieser Rückblende und auch die nochmalige Betonung von Kalebs dauerhafter Inbesitznahme Hebrons in Ri 1,20 erklären. Ab Ri 1,17 wird die Fortsetzung des Feldzuges in das Stammesgebiet Simeons nur sehr knapp beschrieben. Nach der Lesart des Masoretischen Textes von Ri 1,18 wurden dabei auch die Philisterstädte Gaza, Aschkelon und Ekron erobert.3 Da aber nicht alle Philisterstädte – Gat und Aschkelon werden z.B. nicht erwähnt – erobert werden konnten, war eine Vertreibung aller Bewohner der Ebene, die über eiserne Wagen verfügten, nicht möglich. Eine dauerhafte Inbesitznahme konnte deshalb nur bei den eroberten Gebieten im Gebirge Juda erfolgen (Ri 1,19).

Der Verfasser des ersten Berichtes im Richterbuch begründet den Erfolg des Feldzuges des Stammes Juda in Ri 1,4+19 damit, dass Jahwe die Feinde in ihre Hand gab und mit ihnen war. In Ri 1,28 weist er darauf hin, dass Israel, als es stark geworden war, die Kanaaniter in manchen Gebieten nur fronpflichtig machte, anstatt sie zu vertreiben, und zitiert in Ri 2,1-5 das genau deshalb ergangene Gerichtswort des Engels. Diese Aussagen können als Indiz für einen Hohepriester – und damit den in dieser Zeit amtierenden Pinhas – als Autor gewertet werden. Von ihm können auch die beiden Anhänge in Ri 19 – 21 über das Verbrechen der Einwohner von Gibea und die Strafaktion gegen den Stamm Benjamin sowie in Ri 17 – 18 über die Landsuche des Stammes Dan und ihren Götzenpriester – die beide ebenfalls kurz nach Josuas Tod spielen (siehe ‎9.1.1.2) – stammen. Auch der Schluss des Josua-Buches, wo über Tod und Begräbnis von Josua und von Eleasar, dem Vater des Pinhas, berichtet wird (Jos 24,29-33), kann Pinhas zugeordnet werden. In diesem Zusammenhang hat er auch das entsprechend dem Schwur der Israeliten am Sterbebett Josefs (1Mose 50,25) in Sichem erfolgte Begräbnis Josefs – das wahrscheinlich direkt nach der Eroberung von Ai stattfand, als sich Israel am Berg Ebal bei Sichem versammelte (Jos 8,30-35; Jos 24,32; siehe ‎5.5.2.4) – nachgetragen.

  • 1 Vgl. Josephus: Jüdische Altertümer, S.271, 5. Buch, 1. Kapitel, 29. Abschnitt

    2 Eleasar und sein jüngerer Bruder Itamar wurden schon am Sinai als Priester eingesetzt. Wenn für die Priester dieselbe Altersgrenze galt, wie für die Leviten, die ab 30 Jahren verantwortlich Dienst tun mussten (4Mose 4,2-3) aber laut 4Mose 8,24 schon mit 25 Jahren – wohl zur Ausbildung – in den Dienst an der Stiftshütte eintraten, kann man annehmen, dass Itamar bei seiner Einsetzung als Priester ebenfalls mindestens 25 Jahre alt war und Eleasar demnach mindestens etwa 27 Jahre.

    3 Dem Masoretischen Text folgen bei Ri 1,18 die meisten deutschen Übersetzungen wie auch die English Standard Version. Die Elberfelder und die NeÜ folgen dagegen der Septuaginta (siehe Fußnote zu Ri 1,18 in der Elberfelder). Dort wurde durch Einfügen des Wortes „nicht“ die Aussage in ihr Gegenteil verkehrt.