Über den eigentlichen Rachefeldzug gegen die Midianiter wird im Bibeltext nur sehr knapp und in der 3. Person berichtet, was darauf schließen lässt, dass der Chronist selbst nicht bei dem Feldzug dabei war (anders als in 5Mose 3,1, wo beim Sieg über Og in der Wir-Form berichtet wird). Der Bericht stammt somit zwar aus zweiter Hand, beruht aber auf Augenzeugenberichten von Schlachtteilnehmern, kann also trotzdem als historisch zuverlässig gewertet werden. Wir erfahren, dass die fünf Könige Midians und Bileam, der Sohn Beors, getötet und die Städte und Zeltdörfer niedergebrannt wurden. Dabei wurden die Männer getötet, Frauen und Kinder, das Vieh und alle Habe als Beute mitgenommen und zum Lager Israels gebracht (4Mose 31,7-12). Bei dem Kriegszug fiel kein einziger israelitischer Krieger (4Mose 31,49). Daraus lässt sich schließen, dass die Israeliten nicht nur an Kampferfahrung reicher, sondern wohl auch zahlenmäßig deutlich überlegen waren. Hieraus kann man folgern, dass die Heere der fünf Könige nacheinander besiegt wurden. Nachfolgend wird ein Szenario für diesen Kriegszug aufgestellt, das die im AT-Text vorliegenden rudimentären Informationen – entsprechend den in den Abschnitten 1.7 und 1.8 dargestellten Grundsätzen – durch kontextkonforme Annahmen soweit ergänzt, dass sich ein plausibler Ablauf ergibt, der zu dem im Bibeltext dargestellten Ergebnis führt. Dieser Feldzug kann im Detail aber natürlich auch anders abgelaufen sein.
Das 12.000 Mann starke Heer der Israeliten zog vom Lager in den Steppen Moabs durch das Jordantal nach Norden bis zum Fluss Jabbok und durch dessen Tal nach Osten hinauf ins Hochland von Gilead. Dafür war zunächst ein mehrtägiger Marsch von mehr als 80 km noch ohne Feindberührung erforderlich (siehe Anlage 6a). Sobald sie die Grenze des östlich von Gilead gelegenen midianitischen Gebietes erreicht hatten, griffen sie die grenznahen Siedlungen an, brachten die Männer um und führten Frauen, Kinder und Vieh mit ausreichender Bewachung über die Grenze. Sobald die Könige der Midianiter davon hörten, eilten sie mit den gerade verfügbaren Männern herbei, um die Israeliten aufzuhalten. Die Männer der weiter entfernt liegenden Siedlungen konnten nicht rechtzeitig herbeigerufen werden, so dass sie lediglich durch Boten gewarnt wurden, dass sie sich mit ihren Familien und ihrem Vieh auf die Flucht begeben oder Verstecke aufsuchen sollten. Die Kampfverbände sollten die Israeliten so lange wie möglich aufhalten, um auch den Frauen und Kindern der näher liegenden Siedlungen die Flucht zu ermöglichen. Da sie aus verschiedenen Richtungen kamen und unterschiedliche Entfernungen zurückzulegen hatten, trafen die Kampfverbände der fünf Könige vermutlich nicht gleichzeitig im Kampfgebiet ein und konnten so einzeln geschlagen werden. Dadurch waren die Israeliten zahlenmäßig so überlegen, dass sie selbst keine Verluste hatten und nacheinander alle fünf Könige töten konnten (Schätzung der Zahl der wehrfähigen Midianiter siehe 8.4.4). Die noch übrigen Kämpfer sind danach wohl geflohen. Bileam wurde auf seiner Rückreise vermutlich in einer der Siedlungen überrascht und so schwer verletzt, dass er dort starb. Vermutlich gab er sich vor seinem Tod als Prophet Jahwes zu erkennen und war noch in der Lage einigen der Israeliten über die in 4Mose 22 – 24 geschilderten Ereignisse und seinen eigenen folgenschweren Rat zur Verführung der Israeliten (4Mose 31,16) zu berichten und sein Gewissen damit zu erleichtern. So könnte dieser Bericht Eingang in den biblischen Text gefunden haben.1
Die Israeliten hatten jedenfalls ihren Auftrag, die Midianiter zu schlagen, erfüllt. Auszurotten waren die Midianiter nicht. Es ging wohl vor allem darum, sie so zu schwächen, dass sie dem sich in unmittelbarer Nachbarschaft ansiedelnden halben Stamm Manasse nicht gefährlich werden konnten. Da die Israeliten keine Reittiere besaßen, war eine Verfolgung der geflohenen Einwohner der entfernteren Siedlungen schwierig. Deshalb dürften sich die Israeliten nach ihrem Sieg und der Zerstörung der nahegelegenen Dörfer und der Suche nach Geflüchteten in der näheren Umgebung mit dem schon vorher erbeuteten Vieh und ihren Gefangenen auf den Rückweg zu ihrem Lager gemacht haben. So haben genügend Midianiter überlebt, um den Fortbestand als Volk zu sichern. Bis zur Zeit Gideons etwa 200 Jahre später waren sie wieder stark genug, um Israel zu unterdrücken. Vermutlich haben sie zu dieser Zeit das östlich des Jordans gelegene Gebiet Manasses unterworfen und von dort Raubzüge in das Westjordanland unternommen (siehe 4.5.1 und dort Fußnote 2).
Als das israelitische Heer mit den Gefangenen und dem erbeuteten Vieh in den Steppen Moabs eintraf, wurden die über sie eingesetzten Obersten über 1.000 und über 100 von Mose gerügt, weil sie alle Frauen am Leben gelassen hatten, die doch Israel zu Hurerei und Götzendienst verführt hatten. Mose gab den Befehl, alle nicht mehr unberührten Frauen und die männlichen Kinder umzubringen. Nur Mädchen und Jungfrauen sollten am Leben bleiben (4Mose 31,14-18).
1 Bis in seine Heimat am oberen Euphrat im fernen Syrien gelangten die Informationen über seine Segenssprüche aber zu dieser Zeit wohl nicht. Die Aussage Bileams in seinem vierten Segensspruch in 4Mose 24,17 „… Es tritt ein Stern heraus aus Jakob …“, wird vielfach mit der Aussage der „Magoi“ aus dem Osten (Mt 2,1; auch „Weise aus dem Morgenland“ oder „Heilige drei Könige“ genannt) in Verbindung gebracht, die laut Mt 2,2 zur Zeit der Geburt Jesu den Stern des neugeborenen Königs der Juden gesehen hatten. Falls eine solche Verbindung tatsächlich vorliegt, müssten diese „Magoi“ von der Aussage in 4Mose 24,17 über die heiligen Schriften der Juden Kenntnis erhalten haben, die nach der Wegführung nach Babylon im Gebiet des babylonischen Weltreiches und später auch in Persien ihre Synagogen unterhielten.