Der Bericht über Simson beginnt mit der Aussage, dass die Israeliten wegen ihrer bösen Taten für 40 Jahre in die Hand der Philister gegeben wurden (Ri 13,1). Direkt anschließend wird die Ankündigung und Geburt des Retters Simson geschildert, der somit am Anfang der 40-jährigen Unterdrückungs-Zeit geboren wurde (Ri 13,2-25). Die Geschichte endet in Ri 16,30-31 mit dem Tod Simsons am Ende seiner 20-jährigen Richterzeit. Mit seinem Tod endete auch die 40-jährige Bedrängnis durch die Philister, da im einstürzenden Dagon-Tempel in Gaza mit Simson eine große Anzahl Philister sowie ihre fünf Fürsten, die wegen der Gefangennahme Simsons ein Freudenfest veranstalteten, umkamen (Ri 16,23+27+30). Der Kampf Simsons gegen die Philister begann nach seiner Hochzeit mit einer Philisterin, die er im Streit verließ, weil sie die Lösung eines Rätsels, das er den Gästen gestellt hatte, an die Philister verriet, und die dann mit einem Philister verheiratet wurde (Ri 14,1-4+10-20, siehe auch 4.7). Simson rächt sich daraufhin an den Philistern und beginnt damit den bis ans Ende seines Lebens dauernden Kampf gegen diese (Ri 15 – 16). Man kann daher davon ausgehen, dass er etwa mit 20 Jahren, als er wehrfähig und damit heiratsfähig wurde, in der Mitte der 40-jährigen Unterdrückungszeit heiratete und in der zweiten Hälfte der Unterdrückungszeit 20 Jahre als Richter wirkte.
Die meisten Ausleger gehen aufgrund der Textfolge davon aus, dass Simson nach dem Richter Abdon sein Richteramt ausübte:
Ri 12,15 Danach starb Abdon, der Sohn Hillels, der Piratoniter, und wurde begraben in Piraton im Land Ephraim im Bergland der Amalekiter.
Ri 13,1 Und die Söhne Israel taten weiter, was böse war in den Augen des HERRN. Da gab sie der HERR vierzig Jahre in die Hand der Philister.
Würde man entsprechend der textlichen Reihenfolge die in Ri 13,1 genannte 40-jährige Bedrängniszeit durch die Philister – an deren Beginn Simson geboren wurde – direkt an das im vorausgehenden Vers Ri 12,15 berichtete Ende der Richterzeit Abdons anschließen, müsste man vor Beginn der Richterzeit Simsons ein 20-jähriges Interregnum annehmen, bis Simson wehrfähig war. Dann würde jedoch schon ohne Berücksichtigung einer Richterzeit Samuels die 480-Jahres-Frist um 14 Jahre überschritten. Man könnte allerdings annehmen, dass in Ri 13,1-25 zunächst eine Rückblende auf den 20 Jahre zurückliegenden Beginn der Bedrängung durch die Philister und die Geburt des Retters Simson erfolgt, um das jetzt beginnende Wirken dieses Retters als Richter direkt im Anschluss an Abdon zu erklären.1
Diese Deutung hätte jedoch zwei Konsequenzen, die jede für sich schon sehr unwahrscheinlich wären. Erstens würde dann die 20-jährige Richterzeit Simsons im Jahr der Rückkehr der Bundeslade von den Philistern beginnen und mit dem in 1Sam 7,2 erwähnten 20-Jahres-Zeitraum vor dem Beginn der Richterzeit Samuels zusammenfallen, in dem ebenfalls eine Unterdrückung durch die Philister stattfand, wo Simson aber mit keiner Silbe erwähnt wird. Nach 1Sam 7,2-14 erfolgte die Befreiung von den Philistern aufgrund der Umkehr Israels vom Götzendienst und dem Opfer Samuels durch ein Eingreifen Jahwes gegen das Heer der Philister, bei Simson dagegen durch den von diesem verursachten Einsturz des Dagon-Tempels in Gaza, bei dem mit ihm alle Fürsten und viel Volk der Philister umkamen (Ri 16,23+27+30). Diese beiden Berichte lassen sich m.E. nicht miteinander verbinden. Wer hätte denn die Philister beim Kriegszug gegen Samuel anführen sollen, wenn gerade alle Fürsten der Philister im Dagon-Tempel umgekommen gewesen wären? Wenn dagegen der Kriegszug gegen Samuel vor dem Einsturz des Dagon-Tempel stattgefunden hätte, hätten die Philister nach ihrer vernichtenden Niederlage und dem Verlust aller unterworfenen Städte kaum ein Freudenfest über die Gefangennahme Simsons veranstaltet. Es würden somit unauflösbare Widersprüche zwischen Ri 16 und 1Sam 7 entstehen. Und zweitens würde sich wie in Abschnitt 9.1.1.1 erläutert Samuels Zeit als Richter vor der Einsetzung Sauls auf sechs Jahre verkürzen, was ebenfalls nicht zum Kontext passt. Aus diesen beiden Gründen ist ein Anschluss der Richterzeit Simsons an die des Richters Abdon und damit die Wertung von Ri 13 als chronologische Fortsetzung von Ri 12 abzulehnen.
Wertet man jedoch wie in Abschnitt 9.1.1.2 vorgeschlagen den Simson-Bericht als Anhang an das Richterbuch, ist eine Gleichsetzung der in Ri 13,1 genannten 40-jährigen Unterdrückungszeit mit der in Ri 10,7 ohne Angabe ihrer Dauer erwähnten Unterdrückung durch die Philister möglich.2 Nachfolgend zitiere ich Ri 10,6-9:
6 Und die Söhne Israel taten weiter, was böse war in den Augen des HERRN, und sie dienten den Baalim und den Astarot und den Göttern Arams und den Göttern Sidons und den Göttern Moabs und den Göttern der Söhne Ammon und den Göttern der Philister. Und sie verließen den HERRN und dienten ihm nicht. 7 Da entbrannte der Zorn des HERRN über Israel, und er verkaufte sie unter die Hand der Philister und der Ammoniter. 8 Und diese zerschlugen und unterdrückten die Kinder Israels in jenem Jahr und danach 18 Jahre lang, alle Kinder Israels jenseits des Jordan im Land der Amoriter, in Gilead. 9 Und die Söhne Ammon zogen über den Jordan, um auch gegen Juda und gegen Benjamin und gegen das Haus Ephraim zu kämpfen. So war Israel in großer Bedrängnis.
Hier wird berichtet, dass Jahwe Israel unter die Hand der Philister und der Ammoniter verkaufte. Die in Vers 8 angegebene Länge der Unterdrückung von 18 Jahren bezieht sich jedoch wegen des Hinweises „jenseits des Jordans“ nur auf die Ammoniter, da die Philister an der Westgrenze Israels diesseits des Jordans lebten. Über den Beginn und die Dauer der Unterdrückung durch die Philister ist hier somit nichts ausgesagt. Die Gleichsetzung mit der 40-jährigen Unterdrückung in der Zeit Simsons ist also vom Text her möglich. Die Frage ist nun, wie man eine 40-jährige Unterdrückung durch die Philister chronologisch einordnen kann. Dafür müssen die folgenden chronologischen Angaben miteinander in Einklang gebracht werden:
Bibel-stelle |
Zeit-raum |
Richter/ Un-terdrücker |
Wohnort/ bedrängtes Gebiet |
Erläuterungen |
Ri 10,1-2 |
23 J |
Tola |
Bergland Ephraim |
|
Ri 10,3-5 |
22 J |
Jaïr |
Gilead (Ostjordanland) |
folgt unmittelbar auf Tola |
Ri 10,7-8 |
18 J |
Ammoniter |
Ostjordanland |
Überschreitung des Jordans erst am Ende der 18 Jahre |
Ri 7,9 |
ohne |
Ammoniter |
Westjordan-Gebiet |
|
Ri 10,7 |
ohne |
Philister |
Westjordan-Gebiet |
Beide Stellen meinen dieselbe Unterdrückungszeit. |
Ri 13,1 |
40 J |
|||
Ri 15,20 Ri 16,31 |
20 J |
Simson |
Zora im Land Dan (Ri 13,2+25; Ri 18,12) |
Richterzeit lag innerhalb der 40 J Bedrängnis (Ri 15,20) |
Ri 12,7 |
6 J |
Jeftah |
Gilead (Ostjordanland) |
Sieg über Ammoniter |
Die Ammoniter unterdrückten die im Ostjordanland lebenden Israeliten 18 Jahre lang (Ri 10,8). Erst als die Ammoniter den Jordan überschritten und auch die Stämme Juda, Benjamin und Ephraim angriffen, schrie das Volk zu Jahwe, entfernte die fremden Götter und diente Jahwe (Ri 10,9-10+16). Nun fassten die Israeliten Mut und stellten ein Heer gegen die Ammoniter auf und beriefen den erfahrenen Kämpfer Jeftah zum Anführer (Ri 10,17-18; Ri 11,1+4-6). Die Überschreitung des Jordans durch die Ammoniter erfolgte also erst am Ende der 18 Jahre und führte zu Israels Umkehr und dem Gegenangriff unter dem neuberufenen Richter Jeftah, der die Ammoniter im ersten Jahr nach Ende der 300 Jahre-Zeitbrücke (Ri 11,26+32-33) schlug. Er beendete damit die 18-jährige Unterdrückung durch die Ammoniter.
Unmittelbar vor diesen 18 Jahren hatte der Richter Jaïr in Gilead 22 Jahre im Ostjordanland regiert und die Ammoniter wohl in Schach gehalten, so dass sie erst nach seinem Tod das Ostjordanland erobern konnten. Er konnte aber nicht gleichzeitig gegen die Philister im Westen kämpfen, so dass die 40-jährige Bedrängnis durch diese parallel zu seiner Regierungszeit und darüber hinaus auch parallel zu der Unterdrückung der Ammoniter im Ostjordanland eingeordnet werden kann. Damit hätte die 40-jährige Unterdrückung durch die Philister im Gebiet westlich des Jordans direkt nach dem Tod des Richters Tola, der im Bergland Ephraim residierte, begonnen – gleichzeitig mit dem Beginn der Regierungszeit des unmittelbar auf Tola folgenden Richters Jaïr.
Schon während der letzten beiden Regierungsjahre Jaïrs in der Mitte der 40-jährigen Unterdrückung durch die Philister begann Simson als gerade 20-Jähriger mit seinem Kampf gegen die Philister. Aufgrund dieser Verzahnung der beiden Geschehensabläufe östlich und westlich des Jordans wurde wahrscheinlich die Simson-Geschichte als Anhang an das Richterbuch angehängt. Nur so konnte sie im Zusammenhang erzählt werden. Simsons Richterzeit endete erst mit seinem Tod, weil er durch den von ihm verursachten Einsturz des Dagon-Tempels in Gaza sehr viele Philister – darunter ihre fünf Fürsten – mit in den Tod nahm. Vor diesem letzten großen Sieg über die Philister war Simson jedoch einige Zeit im Gefängnis von Gaza eingesperrt. Durch den Verrat von Delila hatten die Philister erfahren, dass das Geheimnis seiner übermenschlichen Kraft in seinem noch nie geschnitten Haar lag. Sie schnitten ihm im Schlaf sein Haar ab und konnten ihn so überwältigen. Nachdem sie ihm die Augen ausgestochen hatten, musste er im Gefängnis in Gaza die Mühle drehen (Ri 16,18-21).
Simson hatte im Stammesgebiet Dan, das an das Land der Philister sowie die Stammesgebiete von Juda, Benjamin und Ephraim angrenzte (siehe Anlage 6a), gelebt. Wahrscheinlich entstand durch Simsons Gefangennahme ein Machtvakuum im zentralisraelischen Bergland, das die Ammoniter für einen Überfall auf die Stammesgebiete von Juda, Benjamin und Ephraim nutzten (Ri 10,9). Dies führte dazu, dass das Volk zu Jahwe umkehrte und von der Anbetung fremder Götter abließ (Ri 10,10-16). Diese Umkehr führte auch zur Beendigung der 40-jährigen Bedrängnis durch die Philister, da mit dem von Simson verursachten Einsturz des Dagon-Tempels viel Volk und alle fünf Fürsten der Philister umkamen. Man kann davon ausgehen, dass zwischen der Gefangennahme Simsons und dem Freudenfest im Dagon-Tempel mehrere Monate vergangen waren, da Simsons Haar wieder gewachsen war und damit auch seine Kraft. So ergibt sich folgende Reihenfolge der Ereignisse:
- Gefangennahme Simsons
- Angriff der Ammoniter auf das zentralisraelische Bergland westlich des Jordans, an dessen Rand Simson vorher gelebt hatte
- Umkehr des Volkes zu Jahwe
- Simson bringt den Dagon-Tempel zum Einsturz und beendet dadurch die 40-jährige Unterdrückung durch die Philister im Gebiet westlich des Jordans. Gleichzeitig endet mit seinem Tod auch die 20-jährige Richterzeit Simsons, die laut Ri 15,20 innerhalb der Unterdrückungszeit lag.
- Heereszug gegen die Ammoniter unter dem neuen Richter Jeftah und dadurch Beendigung der 18-jährigen Unterdrückung durch die Ammoniter im Ostjordanland
Die in Ri 10,7 in einem Satz genannten Unterdrückungszeiten durch Ammoniter und Philister haben also im gleichen Jahr geendet. Die Richterzeit Jeftahs schloss sich unmittelbar an diese beiden Unterdrückungszeiträume und die gleichzeitig endende Richterzeit Simsons an. Simsons Richterzeit ist somit am Ende des 300-Jahres-Zeiraumes, der mit der Eroberung Heschbons begonnen hat, einzuordnen und endet gleichzeitig mit diesem.
Bei der Umkehr des Volkes zu Jahwe hat möglicherweise der zu dieser Zeit amtierende Hohepriester Eli eine Rolle gespielt, der seinen Amtssitz in Schilo im Bergland Ephraim hatte (siehe Anlage 6a Anlage 6a). Wahrscheinlich hat er als Sprachrohr Jahwes zu ihnen gesprochen. Wie genau seine Richterzeit einzuordnen ist, untersuche ich im nächsten Abschnitt.
1 Ähnliche Rückblenden gibt es z.B. bei den Geschichten von Josef (1Mose 37,2b-11: chronologisch vor Vers 2a einzuordnen) und von Juda (1Mose 38,1-5: chronologisch vor Kap. 37,12 einzuordnen). Diese beiden Beispiele erläutere ich in Abschnitt 5.5.2.4).