Für die Ermittlung der Gott zu weihenden Erstgeborenen aus der Zahl der potenziellen Mütter sind vier Gesichtspunkte zur beachten:

  1. Frauen, die keine Kinder hatten, sind abzuziehen, um die Mütter mit Kindern zu erhalten. Für Kinderlosigkeit dürften hauptsächlich folgende drei Gründe ursächlich gewesen sein:
    • Die Frau verstarb vor Erreichen des fortpflanzungsfähigen Alters bzw. vor Heirat. Nach der in Anlage 8b, Tab. 9b angenommenen Zahl der Sterbefälle für die unter 20-Jährigen ergibt sich dafür ein Prozentsatz von etwa 2,7 %.
    • Eine Frau fand keinen Ehepartner.
      Wenn ein Ehepaar keine Kinder bekam oder die erste Ehefrau nur Mädchen geboren hatte, konnte der Mann eine zweite offizielle Ehefrau heiraten. Die Kinderlosigkeit Hannas war vermutlich auch der Grund für die zweite Frau bei Elkana, der Hanna mehr liebte als Peninna (1Sam 1,2+5; siehe ‎6.2.3). Daraus folgte allerdings eine „Frauenknappheit“. Dazu kommt, dass die Eltern ein großes Interesse daran hatten, ihre Töchter zu verheiraten. Einerseits waren diese dadurch versorgt, wenn die Eltern starben, und anderseits gab es wirtschaftliche Gründe, da sie sonst keinen Brautpreis erhielten und so u.U. den Brautpreis für die Bräute ihrer Söhne nicht leisten konnten. Da die Ehen durch die Eltern arrangiert wurden, konnten durch Reduzierung des Brautpreises auch weniger gut vermittelbare Mädchen zumindest als zweite Ehefrau verheiratet werden, so dass vermutlich die allermeisten Frauen eine Ehe schließen konnten und damit eine Chance auf eigene Kinder hatten.1 Vor diesem Hintergrund schätze ich, dass nur etwa 2 % der Frauen unverheiratet blieben, z.B. wegen körperlicher Gebrechen oder eines schlechten Rufs. Frauen deren Ehemann starb, ehe er eigene Kinder gezeugt hatte, hatten Anspruch auf eine Schwagerehe mit einem engen Verwandten ihres Mannes (ggf. als Zweitfrau). Ihr erster Sohn galt dann als Nachkomme des Verstorbenen (1Mose 38,7-8). Der frühe Tod des Ehemannes war somit kein Grund für Kinderlosigkeit.
    • Es lag Unfruchtbarkeit bei der Frau oder dem Mann vor.
      Heute sind etwa 6 Mio. Frauen und Männer in Deutschland zwischen 25 und 59 Jahren ungewollt kinderlos. Dies entspricht etwa einem Sechstel (ca. 16 %) der Menschen in dieser Altersgruppe.2 Auch weltweit ist heute jedes sechste Paar von Unfruchtbarkeit betroffen.3 Die Ursachen sind vielschichtig und können sicher nicht einfach auf die Zeit von vor etwa 3.500 Jahren übertragen werden. Man kann davon ausgehen, dass das Erbgut des Menschen seit dieser Zeit eine fortschreitende Degeneration erfahren hat und auch Umwelteinflüsse eine Rolle spielen. Insbesondere vor dem Hintergrund der betonten großen Fruchtbarkeit und der hohen Wachstumsrate Israels dürfte dieser Anteil damals deutlich niedriger gewesen sein. Ich nehme daher an, dass bei den Israeliten in Ägypten nur etwa 5,3 % der Frauen – und damit etwa ein Drittel des aktuellen Wertes – wegen Unfruchtbarkeit der Frau oder des Mannes keine Kinder hatten. Dabei habe ich berücksichtigt, dass in den reicheren Familien die unfruchtbaren Frauen durch ihre als „Leihmütter“ dienenden Sklavinnen „eigene“ Kinder bekommen konnten, was den Anteil der unfruchtbaren Ehen absenkte.4 Andererseits kam es bei einer zweiten Eheschließung wegen Kinderlosigkeit der ersten Frau zu einer zweiten kinderlosen Frau, wenn Unfruchtbarkeit des Mannes vorlag. Ich gehe vereinfachend davon aus, dass sich diese beiden Fallgestaltungen etwa ausgeglichen haben.

   Insgesamt ergeben sich somit rund (2,7 % + 2 % + 5,3 % =) 10 % kinderlose Frauen.

  1. Bei den Müttern kann vereinfachend angenommen werden, dass die Hälfte zuerst einen Sohn geboren hat. Die anderen 50 % haben zuerst ein Mädchen geboren. Diese sind deshalb abzuziehen.
  2. Da sich die so ermittelte Anzahl der Erstgeborenen auf den Zeitpunkt des Exodus bezieht, sind die Erstgeborenen abzuziehen, die vor dem ersten Zensus beim Kampf gegen die Amalekiter bzw. beim Gericht wegen des goldenen Kalbs umgekommen sind. Nach den Berechnungen in Anlage 8c, Tab. 9c sind von 27.500 ausgezogenen wehrfähigen Israeliten bis zum ersten Zensus 3.950 Mann (= 14,36 %) gefallen. Beim ersten Angriff der Amalekiter auf die beim Marsch zurückgebliebenen Schwachen (siehe ‎3.1.2.1) sind zusätzlich über 75-jährige Männer umgekommen. Unter 20-Jährige waren wohl bei beiden Ereignissen kaum betroffen (siehe auch ‎7.1.3.3). Der Prozentsatz von 14,36 % ist daher auf alle über 20-jährigen Erstgeborenen anzuwenden. Daher muss zunächst der Anteil der über 20-jährigen an allen Erstgeborenen ermittelt werden. Dafür kann der für die Gesamtbevölkerung ermittelte Anteil dieser Altersgruppe von 61,85 % (siehe Anlage 14, Tab. 17) herangezogen werden. Von diesem Teil der Erstgeborenen sind 14,36 % Gefallene abzuziehen. Dies ergibt eine Reduzierung um (61,85 x 14,36 % =) 8,88 %. So ergibt sich die Anzahl der Erstgeborenen beim Ersten Zensus.
  3. Ein kleiner Teil der männlichen Erstgeborenen durfte aufgrund eines Gebrechens nicht Gott geweiht werden (siehe ‎6.2.3). Analog zur Berechnung bei den Leviten kann daher ein Anteil von 2,91 % (Berechnung siehe ‎7.1.1) von den ermittelten Erstgeborenen abgezogen werden.

In Anlage 15, Tab. 19 ist die Berechnung der Erstgeborenen aus der Anzahl der potenziellen Mütter mit den vorstehenden Annahmen in der mittleren Spalte dargestellt. Es ergeben sich 11.008 Erstgeborene. Dieser Wert liegt sehr viel näher an der ersten der beiden in Abschnitt ‎6.1 aufgezeigten Deutungsalternativen von 10.273 oder 22.273 Erstgeborenen. Selbst wenn man den Anteil der kinderlosen Frauen und der Erstgeborenen mit Gebrechen jeweils auf 0 % absenkt, werden maximal 12.598 Erstgeborene erreicht. Damit kann die Deutung der Zahlenangabe als 22.273 Erstgeborene ausgeschlossen werden. Im nächsten Abschnitt wird untersucht, unter welchen Bedingungen eine weitere Annäherung an die Deutung 10.273 möglich ist.

  • 1 In der Ägyptenzeit konnte zwar die Hauptehefrau auch ihre Sklavin ihrem Mann als Nebenfrau – sozusagen als „Leihmutter“ – anbieten, deren Kinder dann als Kinder der Hauptfrau galten (1Mose 16,2; 1Mose 30,1+3). Während des größten Teils der Ägyptenzeit besaßen aber nur noch die reicheren Israeliten eigene Sklaven (siehe ‎5.5.2.5). So kam für die Mehrzahl der Ärmeren als zweite Frau nur eine von ihrem gesellschaftlichen Status her weniger attraktive oder eine schon etwas ältere israelitische Frau in Frage, deren Brautpreis für sie bezahlbar war.

    2 Paul Blickle und Lydia Klöckner: Wenn das Wunschkind ausbleibt. Fakten zur Unfruchtbarkeit. In: Zeit-Online vom 08.04.2013, akt. 04.04.2017. Url: https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2013-03/ungewollt-kinderlos-infografiken (Aufruf: 03.05.2023)

    3 Vgl. Zahlen zur Unfruchtbarkeit in Europa [und weltweit]. Erhoben von „European Society of Human Reproduction and Embryology” (https://www.eshre.eu/Data-collection-and-research ) veröffentlicht von „Fertilia“, einem e-Health-Unternehmen. Url: https://fertila.de/unfruchtbarkeit-in-europa/ zuletzt bearbeitet: 06.02.2019, (Aufruf: 03.05.2023).

    4 Siehe dazu Fußnote 1