In Abschnitt ‎9.1.1.4 hatte ich aufgezeigt, dass Simsons nur 40-jährige Lebenszeit innerhalb der 98 Lebensjahre Elis lag. Bei Simsons Geburt war Eli 48 und bei seinem Tod 88 Jahre alt. Eli wurde mit 58 Jahren Richter, zehn Jahre später begann Simsons 20-jährige Richterzeit. Der Hohepriester Eli könnte somit der Verfasser des Anhangs mit der Geschichte Simsons sein. Dafür sprechen insbesondere die „geistlichen“ Beurteilungen des Geschehens in Ri 13,24-25 und Ri 14,3-4+19:

Ri 13,24 Und die Frau gebar einen Sohn und gab ihm den Namen Simson. Und der Junge wuchs heran, und der HERR segnete ihn. 25 Und der Geist des HERRN fing an, ihn zu treiben in Machaneh-Dan zwischen Zora und Eschtaol.

Ri 14,3 Da sagte sein Vater zu ihm und ⟨auch⟩ seine Mutter: Gibt es unter den Töchtern deiner Brüder und unter meinem ganzen Volk keine Frau, dass du hingehst, eine Frau zu nehmen von den Philistern, den Unbeschnittenen? Simson aber sagte zu seinem Vater: Diese nimm mir, denn sie ist in meinen Augen die Richtige! 4 Sein Vater und seine Mutter erkannten aber nicht, dass es von dem HERRN war; denn er suchte einen Anlass bei den Philistern. In jener Zeit herrschten nämlich die Philister über Israel.

Ri 14,19 Und der Geist des HERRN kam über ihn. Und er ging hinab nach Aschkelon und erschlug dreißig Mann von ihnen und zog ihnen die Ausrüstung aus und gab die Festkleider denen, die das Rätsel gelöst hatten. Und sein Zorn entbrannte, sodass er ins Haus seines Vaters hinaufging.

Hier wird der Geist Jahwes als Antreiber für die Handlungen Simsons genannt. Dass Simson sich in eine Philisterin verliebt und eine Ehe mit ihr anstrebt, würden heute manche Beobachter als positiv im Sinne der Völkerverständigung ansehen. Tatsächlich entsteht daraus aber eine immer stärker eskalierende Spirale der Gewalt, weil die 30 philistäischen Gäste auf seiner Hochzeit auf eine Wette mit Simson um je ein Festgewand eingehen, dass sie sein Rätsel lösen könnten. Dann bedrohen sie seine Frau und ihre Familie mit dem Feuertod, wenn sie ihnen die Lösung des Rätsels nicht verraten würde. Nachdem seine Frau die Lösung deshalb verraten hatte (Ri 14,15+17), tötet Simson durch den Geist Jahwes getrieben 30 Philister in Aschkelon, um die 30 Gewänder zu bekommen und geht im Zorn weg. Als daraufhin seine Frau mit einem Philister verheiratet wird, zündet Simson die Felder der Philister an, woraufhin diese seine Ex-Frau und ihre Familie verbrennen. Aus Rache tötet nun Simson in einem großen Schlag weitere Philister usw. (Ri 15,5-8).

Der Chronist Simsons deutet dieses vordergründig als rachegetriebenes menschliches Verhalten erscheinende Geschehen geistlich als von Jahwe veranlasst, weil die Bosheit der Philister ein solches Maß erreicht hatte, dass Jahwe Gericht über sie bringen wollte.1 In vergleichbarer Weise gibt der in der Zeit Jesu amtierende Hohepriester Kaiphas eine geistliche Beurteilung ab für das Geschehen um Jesu Verurteilung und Auslieferung an die Römer: „Es ist besser, dass ein Mann für das Volk sterbe“ (Joh 11,49-51; Joh 18,13-14). In beiden Johannes-Stellen wird ausdrücklich betont, dass er zu dieser geistlichen Beurteilung befähigt war, weil er der amtierende Hohepriester war. Analog zu dieser ausdrücklichen Aussage, lassen sich auch die geistlichen Beurteilungen im Simson-Bericht dem Hohepriester Eli zuschreiben. Diese Analogie bestätigt meinen Vorschlag, dass Eli der Verfasser des Anhangs in Ri 13 – 16 mit der Geschichte Simsons war.

Eli könnte ebenso die folgenden seine Zeitgenossen betreffenden Berichte verfasst haben:

  • Ri 10,1-5: knappe chronologische Angaben zu den Richtern Tola und Jaïr
  • Ri 10,6-18: Abfall Israels von Jahwe und Gericht durch Ammoniter und Philister sowie Buße und Umkehr des Volkes
  • Ri 11,1-40 und Ri 12,1-7 Geschichte Jeftahs

Der Bericht über den Abfall Israels und das Gericht durch die Ammoniter bildet sozusagen die Vorgeschichte für die Berufung des Richters Jeftah. Die gesamte Geschichte von Ri 10,6 bis Ri 12,7 kann als ein zusammenhängender Bericht von einem Verfasser angesehen werden. Auch darin spielt die geistliche Beurteilung des Geschehens eine große Rolle (Ri 10,6-7+10-16; Ri 11,29). Zusammen mit den chronologischen Angaben über Tola und Jaïr ergibt sich eine lückenlose Chronologie über einen Zeitraum von (23 + 22 + 18 + 6 =) 69 Jahren vom Amtsantritt Tolas bis zum Tod Jeftahs. Eli war beim Tod Tolas – erst zu diesem Zeitpunkt dürfte der kurze chronologische Eintrag über dessen 23-jährige Amtszeit erfolgt sein – 48 Jahre und beim Tod Jeftahs 94 Jahre alt. Mit 48 Jahren kann Eli schon Hohepriester gewesen sein.

Aus den vorstehenden Überlegungen leite ich die folgende These ab: Während der Richterzeit war es die Aufgabe des Hohepriesters, die Geschichte des Volkes Israel schriftlich festzuhalten und die Berichte in einem Archiv zusammen mit den von Mose und Josua überlieferten heiligen Schriften zu sammeln. Um diese These weiter zu untermauern, werde ich im nächsten Abschnitt untersuchen, ob weitere Berichte einem Hohepriester als Verfasser zugeordnet werden können.

  • 1 Hier gilt das gleiche Prinzip, wie bei der Anreizung Davids zu einer seinen Stolz befriedigenden Volkszählung durch Jahwe, die dann Anlass zu einem Gericht am Volk wurde, das durch seine Bosheit schon vorher gerichtsreif war: 1Sam 24,1: „Und wieder entbrannte der Zorn des HERRN gegen Israel. Und er reizte David gegen sie auf zu sagen: Geh hin, zähle Israel und Juda!“. Detailliertere Ausführungen zu diesem Geschehen und eine Auflösung des scheinbaren Widerspruchs zu 1Chr 21,1 finden sich in Abschnitt ‎9.5 mit Fußnote 294.