Ein sehr plakatives Beispiel für eine solche Verwechslung von אַלֻּף (ALuPh) mit אֶלֶף (ÄLäPh) liegt m.E. auch bei den nach dem Masoretischen Text 50.070 Getöteten in Bet-Schemesch vor. Einige Einwohner waren vor der Stadt bei der Weizenernte, als die von den Philistern auf einem Wagen zurückgeschickte Bundeslade ankam (1Sam 6,13). Die Anzahl der Getöteten wird in 1Sam 6,19 angegeben. Ich zitiere zwei unterschiedliche Übersetzungen:

19 Und Er schlug [einige] der Bethschemiter, weil sie in die Lade des HERRN geschaut hatten; und er schlug von dem Volk 70 Mann [und] 50 000 Mann.1 Da trug das Volk Leid, weil der HERR das Volk mit einem so großen Schlag heimgesucht hatte. (Schlachter 2000)

1 Möglicherweise waren zahlreiche Neugierige aus dem ganzen Volk nach Beth-Schemesch gezogen, um sich die Bundeslade anzusehen, die sonst immer im Heiligtum den Blicken der Menschen entzogen war.

19 Und er schlug die Leute von Bet-Schemesch, weil sie sich die Lade des HERRN angeschaut hatten, und schlug im Volk siebzig Mann.6 Da trauerte das Volk, weil der HERR das Volk so schwer geschlagen hatte. (Elberfelder Übersetzung)

6 Im Mas. T. steht außerdem noch: 50 000 Mann; d. i. vielleicht eine aus Versehen in den Text aufgenommene Randbemerkung.

Bet-Schemesch lag an der Nordgrenze des Stammesgebietes Judas und grenzte im Westen an das Gebiet der Philister an (siehe Anlage 6a, gelb umrandet). Der Ruinenhügel der alten Stadt (Tel Beth-Shemesh) bedeckt eine Fläche von 7 acres. Dies entspricht 28.328 qm oder einer Fläche von vier Fußballfeldern nach UEFA-Standard (105 x 68 m = 7.140 qm). Ausgrabungen in den 1990er Jahren enthüllten, dass in der Richterzeit (12.-11. Jh v. Chr.) der gesamte Ruinenhügel besiedelt war.1 Trotzdem lebten auf einer solch kleinen Fläche mit Sicherheit weniger als 1.000 Menschen. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass eine Zahl von 50.070 Getöteten vielfach angezweifelt wird bzw. verschiedene Erklärungsversuche, wie es zu dieser großen Zahl gekommen sein könnte, gemacht wurden (siehe Fußnoten in den beiden Zitaten von 1Sam 6,19 oben). Meinen Vorschlag zur Entstehung dieser großen Zahl möchte ich nachfolgend näher erläutern.

Der zweite Teil des Verses lautet nach der Lesart des Masoretischen Textes auf Hebräisch wie folgt:

וַיַּ֤ךְ בָּעָם֙ שִׁבְעִ֣ים אִ֔ישׁ חֲמִשִּׁ֥ים אֶ֖לֶף אִ֑ישׁ19b

19bWaJaKh BaÃM SchiBĨM I°Sch ChaMiSchIM ÄLäPh I°Sch

19b … und er schlug von dem Volk 70 Mann [und] 50 000 Mann. … (Schlachter 2000)

Diese Art der Angabe einer Zahl ist sehr ungewöhnlich. Normalerweise werden in den alttestamentlichen Texten die Zahlwörter einer zusammengesetzten Zahl in umgekehrter Reihenfolge angegeben: „fünfzig tausend und siebzig“. Auch die Bezeichnung „Mann“ für die genannte Anzahl wird i.d.R. nur einmal entweder vor allen oder nach allen Zahlenbestandteilen angegeben. Eines der seltenen Beispiele für die hier vorliegende Anordnung der Zahlwörter findet sich in 2Mose 12,40. Ich zitiere meinen wörtlichen Übersetzungsvorschlag, wie ich ihn in Abschnitt ‎5.1.2 begründet habe:

40 Aber (die Zeit des) Aufenthalts (der) Söhne Israels, welche gewohnt hatten in Ägypten, (war) 30 Jahre und 400 Jahre. (Eigener Übersetzungsvorschlag)

Auch hier steht die niedrigere Zahl vor der höheren und zweimal die Bezeichnung „Jahre“. Dafür gibt es aber einen ganz bestimmten Grund. Hier wird auf die „400-Jahres-Frist der Demütigung des Samens Abrahams“ (siehe ‎5.1.4) angespielt, die vom 31. bis zum 430. Jahr der „430-Jahresfrist ab dem Einzug Abrahams in Kanaan“ lief, und aufgezeigt, dass vor diese 400-Jahres-Frist noch 30 Jahre vorgeschaltet waren. Eigentlich sind hier also zwei voneinander unabhängige Zahlen mit jeweils einer eigenen Bezeichnung „Jahre“ angegeben, für die in den meisten Übersetzungen nur die Summe 430 und einmal die Bezeichnung „Jahre“ angegeben wird. Entsprechend sind auch die „70 Mann und 50.000 Mann“ als zwei voneinander unabhängige Zahlen zu verstehen.

Wenn man – wie die Elberfelder Übersetzung – annimmt, dass es sich bei den 70 Mann vom Volk um die vor der Stadt mit der Weizenernte beschäftigten Männer handelte, könnten mit der zweiten Zahl „50 ÄLäPh“, die konventionell als 50.000 verstanden wird, ursprünglich 50 ALuPh und damit Sippenoberhäupter bezeichnet worden sein. Hier wäre „Sippenoberhaupt“ im engsten Sinn als Oberhaupt einer Großfamilie zu verstehen, das jeweils seine Großfamilie im Ältestenrat der Stadt vertreten hat. Aufgrund der Wichtigkeit des Ereignisses dürfte sofort der Ältestenrat zusammengerufen worden sein. Dieser hat wohl aus 50 Männern bestanden. Dass diese Größenordnung realistisch ist, lässt sich mit Ri 8,14 bestätigen:

14 Und er fing einen Jungen von den Männern von Sukkot und fragte ihn aus. Da schrieb der ihm die Obersten von Sukkot und seine Ältesten auf, 77 Mann.

Für die befestigte Stadt Sukkot werden die Obersten und Ältesten hier mit 77 Mann angegeben, was eine vergleichbare Größenordnung mit 50 Ältesten von Bet-Schemesch ist. Vermutlich haben erst die 50 Ältesten von Bet-Schemesch den Beschluss gefasst, in die Lade hineinzuschauen, und versucht, den Deckel der Lade oder eine eventuell vorhandene Abdeckung über der gesamten Bundeslade anzuheben. Dies führte zum Tod aller Anwesenden. Allein das Anschauen und selbst der Weitertransport nach Kirjat-Jearim führten dagegen nicht zum Tod der Beteiligten (1Sam 7,1).

Wahrscheinlich wurde schon bei der allgemeinen Textrevision nach dem babylonischen Exil und der dabei erfolgten Standardisierung der Mehrzahlformen von ÄLäPh bei den 50 Sippenoberhäuptern, für die im hebräischen Text die Konsonanten der Mehrzahlform אַלֻּפִים (ALuPhIM) standen, die Bedeutung „Tausend“ mit einer nicht standardgemäßen Pluralbildung angenommen (siehe ‎7.3.2.1), weil es mit Ausnahme der drei Vorkommen in dem späten Buch Sacharja scheinbar keine Vorkommen mit der kurzen Schreibweise אַלֻּף (ALuPh, ohne Vokalbuchstaben „ו“ für das „U“) in den alttestamentlichen Texten gab. Da sich für Tausenderzahlen ab 11.000 aufwärts zum Zeitpunkt der Textrevision die Verwendung der Singularform ÄLäPh durchgesetzt hatte, wurde die in dem alten Text verwendete Pluralform an die aktuellen Standards angepasst. Durch die Umdeutung der Bezeichnung „Sippenoberhäupter“ in den Zahlenbestandteil „Tausend“ verlor die zweite Zahl „50“ ihre Bezeichnung. Wegen der Bezeichnung „Mann“ bei der vorausgehenden Zahl 70 wurde für die nun als 50.000 gelesene Zahl ebenfalls die Bezeichnung „Mann“ angenommen. Vielleicht gab es auch schon damals wegen der Größe der Zahl Zweifel, ob diese Zahl stimmen kann. Da aber vom Textzusammenhang her keine andere Bedeutung denkbar erschien, wurde wohl im Rahmen dieser Textrevision zur Klarstellung auch bei der zweiten Zahl die Bezeichnung אִישׁ (I°Sch = Mann) ergänzt. Der ursprüngliche Text lautete demnach: „70 Mann und 50 אַלֻּפִים (ALuPhIM = Sippenoberhäupter)“.

Wenn man die 50 ÄLäPh – statt sie wie die Elberfelder ersatzlos zu streichen – als „50 Sippenoberhäupter“ deutet, ist auch die große Trauer des ganzen Volkes von Bet-Schemesch und die ausdrückliche Aussage, dass es sich um einen sehr schweren Schlag Jahwes handelte (1Sam 6,19c, siehe Zitate oben), noch besser verständlich. Dann wären nicht nur 70 Männer umgekommen – was schon schlimm genug wäre – sondern zusätzlich die Familienoberhäupter aller Großfamilien und damit die gesamte Führungselite der Stadt.

Auch in 1Sam 6,19 ist somit m.E. die kurze Schreibweise ALuPh für Sippenoberhaupt aufgrund der Konsonantengleichheit fälschlicherweise als ÄLäPh interpretiert worden. Dass es aber auch eine Verwechslung in umgekehrter Richtung gab, bestätigt das Beispiel im nächsten Abschnitt.

  • 1 Vgl. Shlomo Bunimovitz und Zvi Lederman, Tel Aviv University Institute of Archaeology: Beth-Shemesh. A Biblical Border City between Judah and Philistia. Url: https://en-humanities.tau.ac.il/beth-shemesh (Aufruf 06.06.2023)