In 2Mose 12,40 wird im Zusammenhang mit einem Aufenthalt der Söhne Israels ein Zeitraum von 430 Jahren erwähnt. In nahezu allen mir bekannten deutschen Übersetzungen wird dies als 430-jähriger Aufenthalt in Ägypten dargestellt. Dem widerspricht aber Gal 3,16-17, wo von 430 Jahren zwischen der Verheißung an Abraham und dem Auszug aus Ägypten die Rede ist:
16 Nun aber sind die Verheißungen dem Abraham und seinem Samen zugesprochen worden. Es heißt nicht: »und den Samen«, als von vielen, sondern als von einem: »und deinem Samen«, und dieser ist Christus. (Schlachter Übersetzung)
17 Dies aber sage ich: Einen vorher von Gott bestätigten Bund macht das vierhundertdreißig Jahre später entstandene Gesetz nicht ungültig, sodass die Verheißung unwirksam geworden wäre. (Elberfelder)
Abraham erhielt unmittelbar nach seinem Einzug in Kanaan das erste Mal die Verheißung, dass dieses Land seinem Samen gehören soll. Dies ist in 1Mose 12,7 beschrieben:
7 Da erschien der HERR dem Abram und sprach: Deinem Samen will ich dieses Land geben! Und er baute dort dem HERRN, der ihm erschienen war, einen Altar. (Schlachter Übersetzung)
Nach dem Auszug aus seiner Verwandtschaft und dem damit erfolgten Gehorsamsschritt erscheint Jahwe dem Abram und bestätigt an dieser Stelle durch seine Verheißung den Bund mit Abraham, worauf dieser einen Altar errichtet, um Gott zu opfern. Durch das Opfer Abrahams, d.h. das Blut des Opfertieres, wird dieser Bund gültig (Hebr 9,18). Dieser Bund wird weniger als zehn Jahre später durch die in 1Mose 15,7-21 beschriebenen Opferhandlungen und Verheißungen lediglich noch konkretisiert und bestätigt. Somit kann als sicher gelten, dass die 430 Jahre mit dem Kommen Abrahams nach Kanaan beginnen. Aus den Altersangaben bei Abraham, Isaak, Jakob und Josef lässt sich eine Zeit von 215 Jahren zwischen dem Kommen Abrahams nach Kanaan und Jakobs Zug nach Ägypten errechnen (siehe Anlage 7b und Erläuterung dazu unter 5.1.6). Es verbleiben somit weitere 215 Jahre für die Zeit in Ägypten. Für diese kürzere Zeitdauer spricht auch die oben angeführte Generationenfolge Levis. Aufgrund der jeweils hohen Lebensalter der drei Vorfahren Eleasars können vier Generationen zwar 215 Jahre in Ägypten (+ 40 Jahre Wüstenwanderung) bis zur Rückkehr nach Kanaan überbrücken, nicht aber 430 + 40 Jahre.
Somit stellt sich die Frage, wie 2Mose 12,40 zu verstehen ist. Der hebräische Grundtext nach der Lesart des Masoretischen Textes hat folgenden Wortlaut:
וּמוֹשַׁב֙ בְּנֵ֣י יִשְׂרָאֵ֔ל אֲשֶׁ֥ר יָשְׁב֖וּ בְּמִצְרָ֑יִם שְׁלֹשִׁ֣ים שָׁנָ֔ה וְאַרְבַּ֥ע מֵא֖וֹת שָׁנָֽה׃ 40
40 UMoSchaBh BöNeJ JiSsRaEL ASchäR JaSchöBhU BöMiZRaJiM SchöLoSchIM SchaNaH WöArBa~ Me°OT SchaNaH.
40 Aber (die Zeit des) Aufenthalts (der) Söhne Israels, welche gewohnt hatten in Ägypten, (war) 30 Jahre und 400 Jahre. (Eigener Übersetzungsvorschlag)
Zum Vergleich die Elberfelder Übersetzung (diese hat das Personalpronomen „sie“ zusätzlich eingefügt):
40 Die Zeit des Aufenthaltes der Söhne Israel aber, die sie[?] in Ägypten zugebracht hatten, betrug 430 Jahre.
Es handelt sich bei dem Hauptsatz um einen Nominalsatz ohne Verb (im Hebräischen nicht selten). Im Deutschen muss das Hilfsverb „war“ eingefügt werden. Die Partikel אֲשֶׁר (ASchäR, hier als Relativpronomen „die“ oder „welche“ zu übersetzen)1 kennzeichnet die Einfügung „gewohnt hatten in Ägypten“ als Relativsatz, der sich auf das unmittelbar vorausgehende „Söhne Israels“ bezieht und erläutert, wer mit den Söhnen Israels gemeint war, nämlich diejenigen, die in Ägypten gewohnt hatten. Eine Aussage, dass sie dort 430 Jahre gewohnt hatten, ist hier nicht gemacht. Die ergibt sich nur, wenn man das nicht im Grundtext stehende Personalpronomen „sie“ einfügt, wie es die meisten Übersetzungen tun.
Das Substantiv מוֹשַׁב (MoSchaBh) ist eng verwandt mit dem Verb יָשַׁב (JaSchaBh), welches Gesenius vorwiegend mit „sitzen“, aber auch mit „wohnen“ wiedergibt.2 In meinem Übersetzungsvorschlag habe ich dieses Verb mit „gewohnt hatten“ übersetzt. Für מוֹשַׁב (MoSchaBh) gibt Gesenius vorwiegend „Sitz“, „Wohnsitz“, „Wohnort“ oder „das Wohnen“ an. Ausschließlich für die o.g. Stelle schlägt er „Zeit des Aufenthalts“ vor.3 Die Einfügung „Zeit des“ ist wegen des Bezugs auf den Zeitraum von 430 Jahren im Deutschen erforderlich. Ich habe in meinem Vorschlag ebenfalls mit „Zeit des Aufenthalts“ übersetzt.
Bei der von mir vorgeschlagenen wörtlichen Übersetzung zeigt sich, dass die Aussage im Grundtext unvollständig ist, weil der Ortsbezug für den „Aufenthalt“ fehlt. Dieser ergibt sich aber indirekt aus der sehr ungewöhnlichen Anordnung der Zahlwörter, die der Zahl 430 zugrunde liegen. Wie aus meiner wörtlichen Übersetzung erkennbar ist, steht im Grundtext „dreißig Jahre und vier hundert Jahre“. Normalerweise würde man in alttestamentlichen Texten folgende Anordnung der Zahlwörter erwarten: „vier hundert und dreißig“ und auch nur einmal die Bezeichnung „Jahre“. Hier liegt eine Anspielung auf die 400-Jahres-Frist in 1Mose 15,13 vor, für die vorausgesagt war, dass in ihr die Nachkommen Abrahams Fremdlinge sein würden in einem Land, das ihnen nicht gehört. Diese Frist endet ebenfalls mit dem Exodus (1Mose 15,14; Details siehe 5.1.4) und deckt somit den größten Teil der in 2Mose 12,40 genannten 430 Jahre ab. Aus dem Bezug auf die 400-Jahres-Frist lässt sich der fehlende Ortsbezug für den in 2Mose 12,40 genannten Aufenthalt erschließen. Es handelt sich um einen Aufenthalt in der Fremde.
Der 400-Jahres-Frist waren noch 30 Jahre vorgeschaltet. Es liegen also eigentlich – erkennbar an der zweimaligen Angabe „Jahre“ – zwei voneinander unabhängige Zahlen vor, die in der Summe den zeitlichen Abstand zwischen Abrahams Einzug in Kanaan und dem Exodus von 430 Jahren ergeben. Die Aussage in 2Mose 12,40 stellt im Rückblick den Bezug zur Verheißung an Abraham in 1Mose 12,7 unmittelbar nach seinem Eintreffen in Kanaan her: „Deinen Nachkommen will ich dieses Land geben“. Vom Zeitpunkt der Verheißung bis zum Aufbruch, um dieses Land in Besitz zu nehmen, waren 430 Jahre vergangen. Damit ergibt sich eine sinnvolle Deutung der in 2Mose 12,40 angegebenen 430 Jahre, die mit den Angaben in Gal 3,16+17 sowie den vier Generationen nach 1Mose 15,13+16 und 2Mose 6,16+18+20+23 harmoniert. Der fehlende Ortsbezug für den Aufenthalt (= Informationslücke) kann durch die Anspielung auf die 400-Jahres-Frist aus dem biblischen Kontext erschlossen werden. Die hier vorgelegte Deutung von 2Mose 12,40 entspricht außerdem eins zu eins dem sprachlichen Inhalt des Grundtextes. Die vom Grundtext nicht gedeckte Einfügung des Personalpronomens „sie“ in der Elberfelder (und in den meisten anderen deutschen Übersetzungen), die den Sinn des Satzes grundlegend zu einem 430-jährigen Aufenthalt in Ägypten verändert, führt zu einem innerbiblischen Widerspruch zu drei anderen Stellen und ist deshalb abzulehnen.
Nun wäre noch zu klären, warum von einem Aufenthalt der Söhne Israels in der Fremde von 430 Jahren geredet wird, obwohl Ruben, der älteste Sohn Jakob-Israels, erst etwa 170 Jahre nach dem Kommen Abrahams nach Kanaan geboren wurde. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus Hebr. 7,9-10:
9 Und sozusagen ist durch Abraham auch für Levi, den Empfänger des Zehnten, der Zehnte entrichtet worden; 10 denn er war noch in der Lende seines Vaters, als Melchisedek ihm begegnete.
Nach dieser Aussage war Levi in der Lende seines (Urgroß)Vaters Abra(ha)m anwesend, als dieser dem Melchisedek den Zehnten gab. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht einmal Levis Großvater Isaak geboren. Daran wird die noch bis in neutestamentliche Zeit reichende biblische Denkweise erkennbar, dass Nachkommen Abrahams schon vor ihrer Geburt als in diesem anwesend gerechnet werden. Somit haben sich die Nachkommen Abrahams – und damit auch die Söhne Jakob-Israels und ihre Nachkommen – schon ab Abrahams Einzug in Kanaan (in Abraham) in der Fremde aufgehalten.4
Demnach kann die 430-Jahres-Frist in 215 Jahre in Kanaan und 215 Jahre in Ägypten aufgeteilt werden. Diese Sichtweise stimmt auch mit einer Aussage des im ersten Jahrhundert n. Chr. lebenden jüdischen Historikers Josephus überein:
Sie verließen aber Aegypten im Monat Xanthikos um die Zeit des Vollmondes am fünfzehnten Tage, im vierhundertdreissigsten Jahre nach der Ankunft unseres Vaters Abram in Chananaea und im zweihundertfünfzehnten nach dem Zuge Jakobs gen Aegypten.5
Wie die Aussage bezüglich Levi in Hebr 7,9-10 zeigt kannte der Schreiber des Hebräerbriefes, der sehr gute Kenntnisse des Alten Testaments hatte, offensichtlich die der Angabe von 430 Jahren zugrundeliegende biblische Denkweise, dass das Handeln der Väter auch den noch nicht geborenen Nachkommen zugerechnet wird (siehe auch 2Mose 20,5-6). Auch Paulus kannte diese Denkweise, denn er bringt die 430 Jahre in Gal 3,16-17 ganz selbstverständlich mit der Verheißung an Abraham in Verbindung, ohne einen Widerspruch zu der ihm als herausragendem Schriftgelehrten sicher bekannten Formulierung im hebräischen Text von 2Mose 12,40 zu sehen.
Als Fazit kann festgehalten werden, dass die Lesart des Masoretischen Textes von 2Mose 12,40 einem 215-jährigen Aufenthalt der Israeliten in Ägypten nicht widerspricht.
1 Vgl. Gesenius: Hebräisches Handwörterbuch, S. 110-112, אֲשֶׁר „zur Einleitung v. Nebensätzen gebr. Bezugspartikel […] 1. Attr.-S. [Attributsatz] […] b) i. d. R. mit det. [determiniertem] Leitwort [… Bsp.:] v. Ackerland, das seinen Mund aufgetan hat Gn 4,11“
4 Vgl. auch F.H. Baader: Chronologie der Bibel. Schömberg: 3. Ausgabe 2001, S. 177-180
5 Josephus: Jüdische Altertümer, S.129, 2. Buch, 15. Kapitel, 2. Abschnitt