Die in Ri 11,26 genannte 300-Jahresfrist reicht von der Eroberung Heschbons vor der Jordan-Überquerung bis zum ersten Jahr des Richters Jeftah. Wenn man aber die Zeitraumangaben im Richterbuch für die Regierungszeiten der Richter und Fremdherrscher vor Jeftah addiert, ergibt sich eine Summe von mehr als 300 Jahren. Für die Eroberung des Landes und die darauffolgenden Regierungsjahre Josuas würde kein Raum bleiben. Um eine Lösung für dieses Deutungsproblem zu finden, muss man die Topgrafie des Siedlungsgebietes der Zwölf Stämme in der Richterzeit kennen. Dieses besteht aus der Küstenebene am Mittelmeer im Westen, die Richtung Osten in die Schefelah, ein niedriges Hügelland, übergeht, das wiederum zum zentralen Bergland bis auf eine Höhe von teilweise über 800 m über dem Meer ansteigt. Das zentrale Bergland erstreckt sich vom Gebiet Judas im Süden über Benjamin und Ephraim bis nach Manasse, wo es sich zum Jesreel-Tal hin senkt. Das Jesreel-Tal bildet eine Tiefebene im Landesinneren, die nur durch eine niedrige Richtung Nordwesten verlaufende Hügelkette von der südlichen Küstenebene abgetrennt ist. Im Norden schließt sich ein Hügelgebiet an, das aber von breiten Tälern durchzogen ist. Dieses Hügelgebiet grenzt mit seiner Nordostflanke an den See Genezareth an (siehe Anlage 6a). Die Küstenebene, das Jesreel-Tal und das Jordan-Tal südlich sowie das Hula-Tal nördlich des Sees Genezareth konnten die Israeliten am Anfang nicht dauerhaft besetzen, weil die Kanaaniter eiserne Streitwagen besaßen (Jos 17,16; Ri 1,19).

Richtung Osten fällt das zentrale Bergland zum Jordangraben ab. Dort befindet sich im Süden das Tote Meer, das mehr als 400 m unter dem Meeresspiegel liegt. Der See Genezareth weiter nördlich liegt immerhin noch mehr als 200 m unter dem Meeresspiegel. Östlich des Jordantals steigt das Land steil bis auf über 1.000 m über dem Meeresspiegel an. Das von den Stämmen Manasse, Gad und Ruben besiedelte Bergland reichte im Süden bis zum Fluss Arnon, der ins Tote Meer mündet. Südlich davon lag das Land Moab. Weiter nördlich im Osten wohnten die Ammoniter und noch weiter nördlich lag das Gebiet der Midianiter (siehe ‎4.1.2). Südlich von Moab lebten die Edomiter, westlich von diesen im Süden Israels die Amalekiter. Das Gebiet der Philister erstreckte sich im Südwesten entlang der Küste des Mittelmeeres. Die Stadt Hazor lag am westlichen Rand des Hula-Tals etwa 20 km nördlich des Sees Genezareth (siehe Anlage 6a). Die Israeliten bildeten in der Richterzeit keinen zentralistisch regierten Staat, sondern eher einen lockeren Stammesverbund, wobei jeder Stamm von seinen Ältesten geführt wurde.

Die im Richterbuch beschriebene Unterdrückung durch fremde Völker betraf in den meisten Fällen nicht das ganze Gebiet Israels. Die Philister überschritten wahrscheinlich nie den Jordan Richtung Osten. Auch der König von Hazor beherrschte mit seinen 900 Streitwagen neben dem Hula-Tal im Norden eher das Gebiet des südlich von seiner Stadt gelegenen Hügellandes und das Jesreel-Tal sowie die Küstenebene als das steil ansteigende Gebiet östlich des Jordans. Die östlich wohnenden Moabiter und Ammoniter beschränkten ihre Angriffe vorrangig auf das Ostjordangebiet und haben eher selten westlich des Jordans Fuß gefasst – und wenn, dann nur in kleineren Gebieten. Vor diesem Hintergrund kann man annehmen, dass manchmal Unterdrückungszeiten durch fremde Herrscher in einem Landesteil von Ruhezeiten in anderen Landesteilen begleitet wurden. Einen solchen Fall hatte ich im vorausgehenden Abschnitt bei der 80-jährigen Ruhezeit angenommen, die auf den Sieg Ehuds über die vereinigten Heere der Moabiter, Ammoniter und Amalekiter unter Eglon von Moab folgte. Über den Richter Ehud wird zunächst in Ri 3,15-26 ausführlich berichtet, wie er König Eglon bei der Tributübergabe tötet und dann über den Jordan ins Bergland Ephraim zurückkehrt. Daran schließt sich in Ri 3, 27-30 der folgende kurze Text an, der die gesamte Geschichte von Ehuds Kriegen gegen die Moabiter und die mit ihnen verbündeten Völker nur sehr lückenhaft beschreibt:

27 Und es geschah, sobald er ⟨heim⟩gekommen war, stieß er ins Horn auf dem Gebirge Ephraim, und die Söhne Israel zogen mit ihm vom Gebirge hinab und er ihnen voran. 28 Und er sagte zu ihnen: Jagt mir nach, denn der HERR hat eure Feinde, die Moabiter, in eure Hand gegeben! So zogen sie hinab, ihm nach, und nahmen den Moabitern die Furten des Jordan und ließen niemanden hinübergehen. 29 Und sie schlugen Moab in dieser Zeit, an die zehntausend Mann, alles kräftige und kriegstüchtige Männer; nicht einer entkam. 30 So musste sich Moab an jenem Tag unter die Hand Israels beugen. Und das Land hatte achtzig Jahre Ruhe.

Im Gebirge Ephraim westlich des Jordans rief er ein Heer zusammen, mit dem er die dort stationierte Besatzungstruppe – und nicht alle kampfähigen Männer – der Moabiter, die aus 10 ÄLäPh, d.h. (10 x 50 =) 500 Mann bestand, tötete. Vorher besetzte er die Furten im Jordan, dass niemand nach Osten entkommen konnte (detailliertere Erläuterung und Begründung für die Neubewertung der Zahl siehe ‎4.5.3). Allein damit hätte er aber das Stammesgebiet von Ruben und Gad im Ostjordanland, das an die Länder Moab und Ammon angrenzte, noch nicht befreit gehabt. Erst recht wären dadurch die Moabiter und Ammoniter nicht so stark geschwächt und Moab nun den Israeliten unterworfen gewesen – Moab musste sich unter die Hand Israels beugen –, dass das Ostjordanland 80 Jahre Ruhe vor ihren Angriffen gehabt hätte. Zwischen Vers 29 und Vers 30 muss daher ein hier nicht beschriebener Kriegszug Ehuds über den Jordan nach Osten stattgefunden haben. Dies ergibt sich als zwingende Schlussfolgerung aus dem Ergebnis in Vers 30. Dieser Sieg befriedete aber nur die Ostjordangebiete. Die Philister im Südwesten wie auch der König von Hazor im Norden, waren davon nicht betroffen. Deshalb habe ich im vorausgehenden Abschnitt vorgeschlagen, dass die Angriffe dieser beiden Gegner und die sich an den Sieg über den König von Hazor anschließende Ruhezeit im Norden parallel zu den 80 Jahren Ruhezeit im Osten einzuordnen sind. Um zu prüfen, ob diese Anordnung mehrerer anderer Fristen parallel zu der 80-jährigen Ruhezeit ausreicht, um die chronologischen Probleme der frühen Richterzeit zu lösen, stelle ich im nächsten Abschnitt eine vollständige Chronologie der 300 Jahre von der Eroberung Heschbons bis zum ersten Jahr des Richters Jeftah auf.