Für den Pentateuch (die fünf Mose-Bücher) wird von der kritischen Wissenschaft angenommen, dass er erst im 1. Jtsd. v. Chr. in der heutigen Form niedergeschrieben wurde – mehr als 500 bis 1.000 Jahre nachdem die berichteten Ereignisse entsprechend den alttestamentlichen Angaben stattgefunden haben sollen. Es gibt aber auch starke Indizien, die für eine Niederschrift der Berichte schon im 2. Jtsd. v. Chr. sprechen, d.h. in der Zeit, in der sie sich laut AT ereignet haben. Diese Indizien erläuterte Dr. Benjamin J. Noonan, Professor für Altes Testament und hebräische Sprache an der Columbia International University (USA), in seinem Vortrag „Datierung der Pentateuch-Komposition im Lichte linguistischer Merkmale“.1 In seinem umfangreichen Buch über nicht-semitische Lehnwörter in der hebräischen Bibel hat er die Vorkommen von Lehnwörtern aus sechs verschiedenen Sprachen in der hebräischen Bibel – auch in Bezug auf Hinweise zu Ursache und Zeitpunkt ihrer Entlehnung – detailliert analysiert und die Anzahl ihrer Vorkommen je Bibel-Buch dargestellt.2 Er kann somit als Experte auf diesem Gebiet gelten. In seinem Vortrag beschränkte er sich auf die Vorkommen ägyptischer Lehnwörter im Alten Testament und dabei insbesondere im Pentateuch.
Ein Lehnwort ist ein lexikalisches Element, das aus einer Sprache übernommen und in den Wortschatz einer anderen Sprache eingegliedert wurde. Die beiden Hauptgründe für die Aufnahme von Lehnwörtern sind laut Noonan erstens Notwendigkeit (es fehlt ein Begriff für Objekte oder Konzepte in der Empfängersprache) und zweitens Prestige (die Verwendung des Begriffs der Geber-Sprache verleiht Prestige). Lehnwörter können viel über vergangene historische, kulturelle und soziale Kontakte zwischen Völkern aussagen. Dies zeigte Noonan am Beispiel von französischen Lehnwörtern, die in großer Zahl in der Zeit von 1050 bis 1400 n.Chr. (mit einem Höhepunkt Mitte des 13. Jh. n. Chr.) in der englischen Sprache Aufnahme fanden. Ursache dafür war die Eroberung Englands durch Wilhelm II. von der Normandie 1066 n. Chr. und die Erhebung der französischen Sprache zur Regierungssprache in England gegen Mitte des 13. Jh. n. Chr. Die Aufnahme der Lehnwörter in die englische Sprache hatte also engen Bezug zu historischen Ereignissen. Wenn die Israeliten tatsächlich längere Zeit in Ägypten gelebt haben, sollte man deshalb in den alttestamentlichen Berichten über diese Zeit eine signifikant größere Anzahl ägyptischer Lehnwörter erwarten können, als im übrigen AT und in anderen nordwestsemitischen Texten (sofern diese nicht ebenfalls über enge Beziehungen zu Ägypten berichten). Wenn es sich beim Pentateuch um authentische Geschichte handelt, könnte es außerdem Hinweise geben, dass diese Wörter in der Mittleren oder Späten Bronzezeit entlehnt wurden, weil die beschriebenen Ereignisse angeblich in dieser Zeit stattfanden.
Im gesamten Pentateuch sind nach Noonans Angaben tatsächlich 31 verschiedene ägyptische Lehnwörter enthalten, was 0,889 % der vorkommenden Lexeme entspricht. Diese 31 Wörter kommen insgesamt 536mal im Pentateuch vor, d.h. 0,481 % aller Wörter im Pentateuch sind ägyptische Lehnwörter. Ein besonderer Schwerpunkt dieser Vorkommen liegt erwartungsgemäß in den in Ägypten spielenden Geschichten – zum einen in 1Mose 37 – 50 (Josefs-Geschichte) und zum Zweiten in 2Mose 1,1 bis 2Mose 15,21 (Bericht über die Vermehrung und Unterdrückung des Volkes in Ägypten, die Zehn Plagen und den Auszug aus Ägypten bis zur Durchquerung des Schilfmeeres). Die Anzahl der Vorkommen und ihr prozentualer Anteil sind nachfolgend tabellarisch dargestellt.
Textbereich |
verschiedene ägyptische Lehnwörter |
Alle Vorkommen dieser ägyptischen Lehnwörter |
||
Anzahl |
Anteil an allen verschiedenen Wörtern |
Anzahl |
Anteil an allen Wörtern |
|
Pentateuch (5 Mose-Bücher) |
31 |
0,889% |
536 |
0,481 % |
1Mose 37 – 50 |
10 |
1,160 % |
107 |
1,255 % |
2Mose bis 4Mose |
29 |
1,215 % |
327 |
0,519 % |
2Mose 1,1 – 15,21 (Vermehrung des Volkes bis Schilfmeer-Durchzug) |
7 |
0,858 % |
153 |
1,836 % |
Übrige alttestamentliche Bücher (ohne Pentateuch) |
46 |
0,539 % |
235 |
0,076 % |
Vergleicht man den prozentualen Anteil der Vorkommen ägyptischer Lehnwörter im Pentateuch von 0,481 % mit dem in den übrigen Büchern des AT von 0,076 % (= 235 Wörter)3 , so zeigt sich, dass der Anteil im Pentateuch um den Faktor 6,3 höher ist. Im Bericht über den Ägypten-Aufenthalt des Volkes Israel (2Mose 1,1 bis 2Mose 15,21) ist dieser Anteil mit 1,836 % noch weit höher, was einem Faktor von 24,1 gegenüber den übrigen Büchern des AT entspricht. Der prozentuale Anteil von 0,481 % für das Vorkommen von ägyptischen Lehnwörtern im Pentateuch ist vergleichbar mit dem Anteil von 0,485 % für das Vorkommen von alt-iranischen Lehnwörtern in den Büchern Ester, Esra und Nehemia. Niemand wird bestreiten, dass die Ursache des hohen Anteils von alt-iranischen Lehnwörtern in diesen Büchern auf den persischen Einfluss zur Zeit ihrer Niederschrift zurückzuführen ist. So ist auch für den Pentateuch eine zeitnahe Niederschrift zum Aufenthalt in Ägypten naheliegend.
In den übrigen nordwestsemitischen Sprachen Ugaritisch, Phönizisch, Altaramäisch, Moabitisch, Ammonitisch und Edomitisch sind kaum ägyptische Lehnwörter belegt. Die einzige Ausnahme bildet Reichsaramäisch. Dort sind 44 ägyptische Lehnwörter (= 2,23 %) mit 483 Vorkommen (= 0,203 %) belegt. Ein großer Teil davon entfällt aber auf den Dialekt Ägyptisch-aramäisch, der in Texten verwendet wurde, die in Elephantine und anderen ägyptischen Orten gefunden wurden. In diesen Texten kommen alle dieser 44 ägyptischen Lehnwörter mindestens einmal vor bei insgesamt 186 Vorkommen. Die übrigen 297 Vorkommen ägyptischer Lehnwörter in reichsaramäischen Texten außerhalb Ägyptens entfallen auf lediglich zwei Wörter, die schon sehr früh in das Aramäische übernommen wurden – ein Wort mit der Bedeutung „Siegel“ und die Bezeichnung für ein Hohlmaß. Somit kann festgehalten werden, dass in nordwestsemitischen Texten kaum ägyptische Lehnwörter vorkommen – mit Ausnahme der in Ägypten gefundenen Texte, bei denen offensichtlich Beziehungen zu Ägypten vorlagen. Die große Zahl ägyptischer Lehnwörter im Pentateuch lässt somit ebenfalls auf enge Beziehungen zu Ägypten zur Zeit der Niederschrift schließen.
Noonan hat weiter untersucht, ob aus der Form der Lehnwörter auf den Zeitpunkt ihrer Entlehnung geschlossen werden kann. Wie alle Sprachen hat sich auch die ägyptische mit der Zeit verändert. Phonologische oder morphologische Merkmale, die in einem dieser Lehnwörter erhalten geblieben sind, spiegeln somit einen bestimmten Entwicklungsstand der ägyptischen Sprache wieder. Für einige der Lehnwörter lässt sich dadurch ein eindeutiger terminus ante quem, also ein spätestmöglicher Zeitpunkt für ihre Entlehnung festlegen. Auf eine Darstellung der sprachlichen Veränderungen dieser ägyptischen Wörter, wie sie Noonan in seinem Vortrag detailliert erläutert hat, verzichte ich an dieser Stelle, da sie den Rahmen meiner Einleitung bei Weitem sprengen würde. Details können in seinem oben erwähntem Buch in Kapitel 6 nachgelesen werden.4 Ausgehend von den begrenzten Hinweisen, die heute vorliegen, kommt Noonan jedenfalls zu der zusammenfassenden Aussage, dass viele der ägyptischen Lehnwörter im Pentateuch wahrscheinlich im 2. Jtsd. v. Chr. entlehnt wurden und bei keinem eine Entlehnung erst im 1. Jtsd. v. Chr. angenommen werden muss.
Wollte man annehmen, dass ein späterer Autor die Berichte des Penateuch erst im 1. Jtsd. v. Chr. mehrere hundert Jahre nach dem Geschehen verfasst hätte, so wären die Erzählungen des Pentateuch eigentlich nichts anderes als ein historischer Roman. Um aber einen historischen Roman zu schreiben, der auch nur annähernd so authentisch klingt, wie die Josefs-Geschichte oder der Bericht über Exodus und Wüstenwanderung mit speziellem ägyptischem Fachvokabular für die Elemente der ägyptischen materiellen Kultur, wäre eine umfassende Forschung in Quellen aus der entsprechenden Epoche notwendig. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ein Autor im Israel der Königszeit oder gar im Exil in Babylon Zugang zu solchen Quellen gehabt hätte. Erst recht kann ausgeschlossen werden, dass er sich die große Mühe gemacht hätte, diese Quellen zu erforschen, um dadurch seine Erzählung authentischer klingen zu lassen, da doch sein Publikum den Unterschied mangels entsprechender Kenntnisse der ägyptischen Kultur dieser frühen Epoche gar nicht hätte würdigen können. Deshalb kommt Noonan zu dem abschließenden Ergebnis, dass aus dem Vorliegen dieser im Vergleich mit anderen biblischen und außerbiblischen Quellen weit überdurchschnittlichen Zahl von ägyptischen Lehnwörtern geschlossen werden kann, dass im Pentateuch authentische Geschichtsschreibung durch Zeitzeugen vorliegt.
Diese Beweisführung finde ich sehr überzeugend. Und wenn schon diese frühesten Berichte authentische Geschichtsschreibung sind, ist es für die Geschichtsschreibung im AT über spätere Epochen umso wahrscheinlicher, dass auch dort authentische Geschichtsschreibung vorliegt. Vor diesem Hintergrund gehe ich bei der folgenden Untersuchung der in den Geschichtsberichten des AT vorkommenden großen Zahlen davon aus, dass diese Berichte von Zeitzeugen niedergeschrieben wurden und deshalb historisch zuverlässig sind.
1 Vortrag von Benjamin J. Noonan: “Dating Pentateuch Composition in Light of Linguistik Features”, gehalten am 08.10.2022 in Schwäbisch Gmünd auf dem Seminar für biblische Archäologie der Arbeitsgruppe für biblische Archäologie (ABA) der Studiengemeinschaft Wort und Wissen. Im folgenden Text werden Auszüge aus diesem Vortrag sinngemäß wiedergegeben.
2 Vgl. Benjamin J. Noonan: Non-Semitic Loanwords in the Hebrew Bible. A Lexicon of Language Contact. University Parks, Pennsylvania: Eisenbrauns 2019. (Linguistic Studies in Ancient West Semitic. Volume 14. Edited by Cyntia L. Miller-Naudé and Jacobus A. Naudé)
3 Insgesamt kommen in den übrigen Büchern des AT 295 ägyptische Lehnwörter vor (= 0,095 % aller Wörter). Diese Zahl wurde um Doppelungen in gleichlautenden Parallelberichten in der Königszeit gekürzt. So ergeben sich 235 Wörter.
4 Vgl. Noonan: Non-Semitic Loanwords in the Hebrew Bible, Chapter 6, Seite 398-405