Eli hatte als Hohepriester Zugang zu dem Archiv der von Mose und Josua verfassten und schon abgeschlossenen Schriften. Im gleichen Archiv wurden wahrscheinlich auch die Berichte früherer Hohepriester über die Geschichte der Richterzeit aufbewahrt. Im vorausgehenden Abschnitt habe ich aufgezeigt, dass es sich dabei um sechs chronologisch aufeinanderfolgende Berichte und drei Anhänge, insgesamt also um neun in sich geschlossene Texte handelt. Zwei davon hat Eli wohl selbst verfasst. In Ri 12,7 endet die Geschichte Jeftahs fünf Jahre, die Geschichte Simsons in Ri 16,31 elf Jahre vor Elis Tod. Die Abfassung der Berichte muss daher in den letzten elf Lebensjahren Elis erfolgt sein. Eli hat als Co-Richter den ebenfalls 11 Jahre vor seinem Tod neuberufenen Richter und Heerführer Jeftah sehr wahrscheinlich bei seinen Verhandlungen mit dem König von Ammon beraten (siehe 9.1.1.4). Die in der Botschaft an den Ammoniter-König gemachten Aussagen über die Geschichte der Eroberung des Ostjordanlandes unter Mose und die Berechnung der seither vergangenen 300 Jahre sind nur mit Kenntnis von 4. und 5. Mose, Josua und der heute in Ri 1 – 10 enthaltenen Berichte über die vorausgegangene Richterzeit erklärbar. Allein auf Basis von mündlichen Überlieferungen, hätten die 300 Jahre kaum genau berechnet werden können. Sie werden aber in Ri 11,26 als genaue Zahl und nicht nur als ungefährer Schätzwert angegeben. Damit muss es ein zentrales Archiv gegeben haben, in dem neben den schon abgeschlossenen Bibelbüchern auch die älteren Berichte über die Richterzeit gesammelt wurden und auf das Eli als Hohepriester Zugriff hatte. Man kann also davon ausgehen, dass Eli sich spätestens vor den anstehenden Verhandlungen mit den Ammonitern intensiv mit der Geschichte Israels befasst hat.
Wie in Abschnitt 9.1.1.1 begründet war Samuel im Alter von 5 Jahren als persönlicher Diener zu Eli gekommen und bei dessen Tod etwa 21 Jahre alt. Zu Beginn des 11-jährigen Zeitraums, in dem Eli seine beiden Berichte verfasste, war er somit etwa 10 Jahre alt. Zu seiner Ausbildung gehörten sehr wahrscheinlich zuallererst das Lesen- und Schreiben-Lernen. So konnte er Eli, als dieser erblindete, als Sekretär dienen. Vielleicht hat Eli ihm seine beiden Berichte sogar diktiert, so dass die Niederschrift durch Samuel erfolgte. Samuel war jedenfalls später selbst ebenfalls als Chronist tätig. In 1Chr 29,29 wird ausdrücklich bestätigt, dass die Berichte über Davids frühe Jahre von Samuel verfasst wurden (siehe auch 14.4.3). Wahrscheinlich stammen die Berichte in 1Sam 1 – 19 bis zu Davids Flucht vor Saul zu Samuel (1Sam 19,18) von ihm, wobei er die Informationen über seine Eltern, das Gelübde seiner Mutter und seine eigene Geburt in 1Sam 1,1-28 von seiner Mutter erhielt. Somit kann man davon ausgehen, dass er mit seinen Aufzeichnungen schon in recht jungen Jahren begonnen hat und von Eli dafür entsprechend ausgebildet wurde. Samuel ist daher der ideale Kandidat für die Rolle eines Redaktors des Richterbuches.
Bei der Zusammenstellung der neun Berichte kann ihn Eli noch beraten haben. Er hat außerdem aus dem vorliegenden Material wohl nur eine Auswahl getroffen und z.B. die kurz nach der Landnahme spielende Erzählung von Noomi und Rut als für die Geschichte Israels nicht wesentlich ausgeschieden. Diese Erzählung wurde erst nach Davids Einsetzung als König wieder relevant (Rut 4,17) und später als separates Buch herausgegeben (siehe 14.4.4.2). Die chronologischen Daten der drei letzten Richter in Ri 12,8-15 konnte er aus eigener Beobachtung ergänzen. Die eigentliche Geschichtsschreibung über die Ereignisse in dieser Zeit – z.B. die Wegnahme der Bundeslade und der dadurch verursachte Tod Elis im 5. Jahr des Richters Ibzan – nahm er aber in seinem eigenen nach ihm benannten Buch 1. Samuel vor. Von der Geburt Samuels bis zum Ende der Amtszeit des Richters Abdon überschneiden sich Richter und 1. Samuel somit um die geschätzte Lebenszeit Samuels bis zum Tod Elis von etwa 21 Jahren zzgl. der in Ri 7,2 genannten 20 Jahre bis zum Beginn seiner eigenen Richterzeit. Diese 20 Jahre entsprechen den (restlichen) Amtszeiten der nach Elis Tod noch amtierenden Richter Ibzan, Eljon und Abdon von (2 + 10 + 8 =) 20 Jahren. Insgesamt liegt somit eine Überschneidung um 41 Jahre vor.
Das hier vorgestellte Szenario zur Entstehung des Richterbuches mit den zu einigen Berichten mit hoher Wahrscheinlichkeit zugeordneten Verfassern kann natürlich keinen völlig sicheren Wahrheitsanspruch erheben, da im Richterbuch selbst keine Verfasser der einzelnen Berichte angegeben sind. Die wenig homogene Gestalt des Richterbuches zeigt aber, dass es aus Originalberichten verschiedener Berichterstatter besteht, die Einblick in die vorausgegangene Geschichte Israels hatten und zu einer geistlichen Beurteilung des Geschehens befähigt waren. Sie waren entweder selbst Augenzeugen oder hatten die Möglichkeit Augenzeugen zu befragen. Die ausführliche Schilderung des Versagens des Volkes und der Fehltritte der Richter, wie z.B. Simsons Besuch bei einer Hure in der Philister-Stadt Gaza (Ri 16,1), zeigen, dass kein Interesse an einer Beschönigung der Geschichte bestand. Somit kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei den Berichten im Richterbuch um authentische und zuverlässige Geschichtsschreibung handelt. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass sich aus allen Angaben eine lückenlose und plausible Chronologie erstellen lässt, die auch mit den Angaben in anderen alttestamentlichen Büchern wie z.B. den Genealogien der Hohepriester in 1Chr 5,30-34, 1Chr 6,35-38 und 1Sam 14,3 sowie dem Gesamtrahmen von 480 Jahren in 1Kön 6,1 kompatibel ist. Wie dieser Gesamtrahmen an unsere heutige Zeitrechnung angebunden werden kann, zeige ich im nächsten Abschnitt.