Nach Jos 7,4-5 zogen zum ersten Angriff etwa 3 ÄLäPh Mann hinauf nach Ai, wurden aber von den Männern Ais in die Flucht geschlagen. Dabei hatte Israel nur 36 Gefallene zu beklagen. Nach den Ausführungen im vorausgehenden Abschnitt ist davon auszugehen, dass 3.000 Mann gemeint sind. 36 Mann entsprechen davon lediglich 1,2 %. Es stellt sich die Frage, warum ein großes Heer nach so geringen Verlusten vor einem zahlenmäßig weit unterlegenen Gegner floh.
Aus dem Bericht über den zweiten Angriff durch Josua, der in das Tal im Norden vor den Stadttoren Ais zog (Jos 8,13b) lassen sich Rückschlüsse auf den Ablauf des ersten Angriffs ziehen. Josua wollte den König von Ai zu einem Ausfall bewegen und hat daher vermutlich sein Heer so aufgestellt, wie beim ersten für Ai erfolgreichen Ausfall. Man kann also davon ausgehen, dass auch beim ersten Mal das Heer in das Tal vor dem Tor der Stadt Ai zog. Folgendes Szenario ist vorstellbar:
Die Israeliten hatten aufgrund ihrer bisherigen leichten Siege ein großes Selbstvertrauen und rechneten nicht mit einem Ausfall der Einwohner Ais. Außerdem war ihnen nicht bekannt, dass in Ai inzwischen auch die Männer Bethels eingetroffen waren und die Besatzung auf 550 Mann verstärkt hatten. Sie ließen deshalb alle Vorsichtsmaßnahmen außer Acht. Beim Anmarsch zogen sie direkt vor die Stadt, um sie sofort einzuschließen. Der König von Ai dagegen war vorsichtig und hatte nach der Kunde von der Eroberung Jerichos Posten aufgestellt und das herannahende Heer frühzeitig bemerkt. Als die Spitze der Marschkolonne der Israeliten im Tal vor seinem Stadttor eintraf, griff er mit 400 Mann bergab an. Der Großteil der Israeliten war in einer weit auseinandergezogenen Marschkolonne noch weit von der Stadt entfernt. Die Soldaten Israels hatten einen 20-km-Marsch mit einem Höhenunterschied von 1.150 m in voller Ausrüstung bei vermutlich großer Hitze1 hinter sich und waren daher ziemlich erschöpft. Sie konnten dem Überraschungsangriff in für sie ungünstigem Gelände nicht standhalten und flohen auf dem Weg, auf dem sie gekommen waren. Nicht zu vergessen ist dabei, dass Jahwe sie verlassen hatte (Jos 7,10-12) und nach dem Text wohl auch der anerkannte Heerführer Josua nicht dabei war. Da der König von Ai sie verfolgte, konnten sie sich nicht formieren. Der hintere Teil der Marschkolonne wurde bei der Flucht mitgerissen. Die geringe Zahl von nur 36 gefallenen Israeliten spricht ebenfalls dafür, dass nur wenige von ihnen in die Kampfhandlungen verwickelt waren, ehe die übrigen flohen. Die Verfolgung reichte bis zu den Steinbrüchen (Jos 7,5). Möglicherweise fiel dort das Gelände steiler ab, so dass an eine Neuformierung des Heeres gar nicht mehr zu denken war.
Nach der panischen Flucht ihres Heeres vor einem zahlenmäßig weit unterlegenen Feind waren das Selbstvertrauen und die Kampfmoral der Israeliten vollständig zerstört (Jos 7,5: „ihr Herz zerfloss“). An einen sofortigen Gegenangriff war daher nicht zu denken, so dass das Heer in das Lager nach Gilgal zurückkehrte. Erst nachdem geklärt war, warum Gott sie verlassen hatte, und der Schuldige bestraft war (Jos 7,25), erhielt Josua die Zusage Jahwes, dass er Ai besiegen würde (Jos 8,1). Damit war auch die Kampfmoral wiederhergestellt.
1 Nach Jos 5,10 feierte das Volk nach der Jordanüberquerung das Passafest (4Mose 28,16-17: der 14. – 21. Nissan entspricht ca. Ende März bis Mitte April). Danach erfolgte die Eroberung Jerichos. So dürfte es beim Angriff auf Ai bereits Anfang/Mitte Mai gewesen sein. Zu dieser Zeit ist es in dieser Region oft schon sehr heiß.