Für die Definition der Gott zu heiligenden Erstgeborenen zitiere ich zunächst nochmals 2Mose 13,2:
2 Heilige mir alle Erstgeburt! Alles bei den Söhnen Israel, was zuerst den Mutterschoß durchbricht unter den Menschen und unter dem Vieh, mir gehört es.
Da hier Menschen und Tiere in einem Atemzug genannt werden und für beide der Hinweis auf das „Durchbrechen des Mutterschoßes“ gegeben wird, kann für die Gott zu heiligenden Erstgeborenen bei den Menschen kaum eine andere Definition gelten als bei den Tieren. Auch bei den Menschen ist daher der Erstgeborene der Frau gemeint. Und auch bei den Menschen wird auf die männlichen Erstgeborenen eingeschränkt. Dies ergibt sich aus der Zählungsaufforderung für die männlichen Erstgeborenen, die Gott zu heiligen waren, in 4Mose 3,40.
Ergänzend zu den im vorausgehenden Abschnitt erläuterten Regelungen für die Tiere in 2Mose 13,12 wird im folgenden Vers 2Mose 13,13 eine Regelung für die Menschen ergänzt:
13 Jede Erstgeburt vom Esel aber sollst du mit einem Lamm auslösen! … Auch alle menschliche Erstgeburt unter deinen Söhnen sollst du auslösen.
Die menschlichen Erstgeborenen, die Gott zu heiligen waren, durften ausgelöst werden. Für die zur Zeit des Auszugs lebenden Erstgeborenen erfolgte die Auslösung gemäß 4Mose 3,41 durch die männlichen Leviten, die Gott für seinen Dienst auserwählt hatte. Der Auslösungsbetrag von fünf Schekel des Heiligtums (= 20 Gera) Silber galt nur für die überzähligen Erstgeborenen, für die kein Levit zur Auslösung vorhanden war sowie für nach dem ersten Zensus zur Welt gekommene erstgeborene Jungen (4Mose 3,47; 4. Mose 18,15-16).
Wenn jeweils der Erstgeborene der Frau Gott gehörte, konnte es bei einem Mann mit mehreren Ehefrauen vorkommen, dass er mehrere Erstgeborene auslösen musste. Dies könnte z.B. bei Elkana, dem Vater Samuels und Ehemann der Hanna, der Fall gewesen sein, wenn das erste Kind seiner anderen Frau Peninna ebenfalls ein Sohn war. Pennina bekam mehrere Söhne und Töchter, während Jahwe den Mutterschoß der Hanna verschlossen hatte (1Sam 1,4-5). Hanna brachte jedenfalls nach Erhörung ihres Gebetes als erstes einen Sohn zur Welt, den sie tatsächlich Gott weihte, indem sie ihn nach seiner Entwöhnung – vermutlich im Alter von fünf Jahren (siehe 5.4.2) – zum Dienst in das Haus Jahwes brachte (1Sam 1,20+24+28). Auf die vom Gesetz vorgesehene Auslösung durch fünf Schekel Silber hatte sie schon bei ihrem Gebet um einen Sohn durch ihr Gelübde, diesen tatsächlich für den lebenslangen Dienst Gott zu weihen (1Sam 1,11), verzichtet. Nach der Definition, wer Gott zu weihen war, gehörte Samuel somit zu den Erstgeborenen. Nach dem in Abschnitt 6.2.1 dargestellten Erbrecht galt er dagegen nicht als Erstgeborener, da dort der Erstgeborene des Vaters gemeint war und Elkana von seiner anderen Frau schon ältere Söhne hatte. Es gibt hier also je nach Kontext zwei unterschiedliche Definitionen für denselben Begriff.1
Ganz deutlich wird auch in 4Mose 3,12-13 – und hier sind nur Menschen genannt – ausgedrückt, dass die Gott gehörenden Erstgeborenen die waren, die den Mutterschoß durchbrachen.
12 Und ich, siehe, ich habe die Leviten mitten aus den Söhnen Israel genommen anstelle aller Erstgeburt, die zuerst den Mutterschoß durchbricht unter den Söhnen Israel; und die Leviten sollen mir gehören. 13 Denn mein ist alle Erstgeburt: An dem Tag, da ich alle Erstgeburt im Land Ägypten schlug, habe ich alle Erstgeburt in Israel für mich geheiligt vom Menschen bis zum Vieh. Mir sollen sie gehören, mir, dem HERRN.
An dieser Stelle wird die Begründung angegeben, dass Gott bei der Tötung aller Erstgeborenen in Ägypten auch alle Erstgeborenen der Israeliten für sich geheiligt und damit als sein Eigentum beansprucht hat. Sie wurden jedoch durch das an die Türrahmen gestrichene Blut der Passalämmer vor dem Gericht an den Erstgeborenen geschützt (2Mose 12,7+12-13). Damit ist die von manchen Auslegern zur Erklärung der Diskrepanz zwischen den Zahlen der Wehrfähigen und der Erstgeborenen bei den konventionellen Zahlen vertretene Deutung, dass nur die nach dem Exodus geborenen Erstgeborenen Gott zu weihen waren, ausgeschlossen. Da bei den Leviten, die anstelle aller Erstgeborenen von Gott beansprucht wurden, alle Altersklassen ab einem Monat und älter vertreten waren, kann davon ausgegangen werden, dass auch bei den Erstgeborenen die Erwachsenen eingeschlossen waren, selbst wenn sie schon eigene Kinder oder sogar Enkel hatten. Entsprechend sind auch bei den Ägyptern erwachsene Erstgeborene, die den Mutterschoß ihrer Mutter einst durchbrochen hatten, umgekommen. In 2Mose 11,5 wird bei der Ankündigung der Tötung der Umfang „vom Erstgeborenen des Pharao, der auf seinem Thron sitzt, bis zum Erstgeborenen der Magd“ angegeben. Auch dies ist ein Hinweis, dass es um den ersten Sohn der Frau ging. Beim Pharao muss man dann annehmen, dass der als Thronerbe eingesetzte Sohn, der bei dem Gericht umkam (2Mose 12,29), gleichzeitig das erste Kind seiner Mutter war, das den Mutterschoß durchbrochen hatte.2 Der amtierende Pharao selbst war dagegen nicht das erstgeborene Kind seiner Mutter, da er die Tötung aller Erstgeborenen überlebte. Entweder hatte seine Mutter einen älteren Sohn, der schon früh verstorben war und deshalb nicht Pharao wurde, oder eine ältere Tochter.
Auch für die im vorausgehenden Abschnitt erwähnte Regelung, dass erstgeborene Tiere, die ein Gebrechen hatten, Gott nicht dargebracht werden durften, gab es bei den Menschen eine Entsprechung. In 3Mose 21,17-23 ist geregelt, dass Priester, die ein Gebrechen hatten, vom Priesterdienst ausgeschlossen waren. In den Versen 18-20 werden die relevanten Gebrechen noch detaillierter aufgeführt als für die erstgeborenen Tiere. Dasselbe muss dann auch für die Leviten gegolten haben und, da diese die Erstgeborenen auslösten, auch für die Erstgeborenen. Als Schlussfolgerung daraus ergibt sich, dass Erstgeborene mit einem Gebrechen auch bei den Menschen nicht Gott dargebracht werden durften und deshalb auch nicht ausgelöst werden mussten. Umgekehrt konnte auch ein Levit mit einem Gebrechen nicht einen gesunden Erstgeborenen auslösen. Hier liegt wohl der Grund für die Differenz zwischen der Summe der gezählten Leviten der drei Sippen von (7.500 + 8.600 + 6.200 =) 22.300 Männlichen (4Mose 3,22+28+34) und der nur 22.000 als Auslösung für die Erstgeborenen angegebenen Anzahl (4Mose 3,39+43-46). Hier muss somit kein Abschreibfehler angenommen werden. Auf diese Frage gehe ich in Abschnitt 7.1.1 noch näher ein.
Als Fazit kann festgehalten werden, dass auch bei den Menschen das erste Kind einer Frau, sofern es männlich war und keine Gebrechen hatte, Gott gehörte und deshalb auszulösen war. Nachfolgend soll versucht werden, aus der in Abschnitt 5.8.1 ermittelten Bevölkerungszahl die Zahl der Erstgeborenen nach dieser Definition zu ermitteln.
1 Unterschiedliche Definitionen für den gleichen Begriff kennen wir auch im deutschen Recht. So wird z.B. der Begriff „Einkommen“ im Einkommensteuergesetz anders definiert als im Sozialgesetzbuch II, wo die Anrechnung eigenen Einkommens auf bestimmte Sozialleistungen geregelt ist. Die Begriffsdefinition erfolgt im jeweiligen Gesetz. Man spricht dann z.B. von „Einkommen im Sinne des Einkommensteuergesetzes“, wenn man sich außerhalb dieses Gesetzes auf die dort gegebene Definition beziehen möchte.
2 Die Mutter des Thronfolgers war i.d.R. die offizielle Hauptfrau, Thronfolger war deren erstgeborener Sohn. Daneben konnte der Pharao auch von einer Sklavin, die er einfach in sein Bett befehlen konnte, einen Sohn haben, der Erstgeborener in diesem Sinne war, wenn die Sklavin vorher keine anderen Kinder hatte.