Aus dem Kreis der bibeltreuen Ausleger stammt dagegen der Vorschlag, dass die in 1Kön 6,1 genannte Frist von 480 Jahren um mehr als 100 Jahre verlängert werden muss. Begründet wird dies damit, dass in 480 Jahren nicht alle für die Zeit zwischen dem Auszug aus Ägypten und dem Tempelbau Salomos biblisch genannten Zeiträume untergebracht werden könnten. In Abschnitt ‎9.1 habe ich dieses Deutungsproblem dargestellt und im Anschluss einen Lösungsvorschlag vorgestellt, nach dem alle genannten Zeiträume widerspruchsfrei in den Rahmen von 480 Jahren eingeordnet werden können. Die Vertreter der Ausweitungstheorie gehen jedoch einen anderen Weg zur Lösung dieses Deutungsproblems. Sie postulieren, dass in der „Tempel-Chronologie“ in 1Kön 6,1 Unterdrückungszeiten durch Fremdherrscher nicht enthalten wären und diese deshalb zu den 480 Jahren hinzuaddiert werden müssten. So hat z.B. Philip Mauro in seiner erstmals 1925 auf Deutsch erschienen Chronologie zu den 480 Jahren noch 114 Jahre solcher Unterdrückungszeiten hinzugerechnet und damit die Frist zwischen Exodus und Tempelbau auf 594 Jahre ausgedehnt.1 Andere Ausleger kommen auf leicht abweichende Jahre.

Im Kontext von 1Kön 6,1 findet sich jedoch keinerlei Hinweis darauf, dass zu den 480 Jahren noch weitere Jahre hinzugerechnet werden müssten. Diese These ist – auch wenn sie schon mehr als 100 Jahre alt ist und vielfach tradiert wurde – einfach aus der Luft gegriffen. Gegen sie spricht, dass bei drei weiteren im AT und NT genannten Fristen mit der Fronarbeit in Ägypten eine etwa 80-jährige Unterdrückungszeit enthalten ist, die kein Ausleger zu der jeweils angegebenen Frist hinzurechnet:

  • 430 Jahre vom Einzug Abrahams in Kanaan bis zum Exodus (2Mose 12,40; Gal 3,17; siehe ‎5.1.2)
  • 400 Jahre vom Entwöhnungsfest Isaaks im Alter von 5 Jahren bis zum Exodus (1Mose 15,13; Apg 7,6; siehe ‎5.1.4)
  • 450 Jahre von der Geburt Isaaks (dem Samen Abrahams, dem das Land verheißen war) bis zur Verteilung des Landes 6 Jahre nach der Überschreitung des Jordans (Apg 13,19-20; siehe ‎5.1.5)

Hier sind jeweils genauso viele Jahre gemeint, wie angegeben sind. Etwas anderes kann auch für die 480-Jahres-Frist nicht gelten.

Gerade die letztgenannte Frist von 450 Jahren wird allerdings von Vertretern der 594-Jahres-Theorie als zusätzliche Begründung der Ausweitung der 480-Jahres-Frist auf genau 594 Jahre angeführt. Dabei berufen sie sich auf eine von allen alten Handschriften größeren Umfangs abweichende späte Lesart von Apg 13,19-20. In dieser Lesart wurde durch eine Umstellung der Wortreihenfolge die 450-Jahresfrist nach der Landnahme eingeordnet. Dies führt zu einer 450-jährigen Richterzeit und damit zu einem Widerspruch zu der in 1Kön 6,1 genannten 480-Jahres-Frist, die neben der Richterzeit auch noch die 40-jährige Wüstenwanderung und die Regierungszeiten von Saul und David enthält. Schon allein dieser Widerspruch entlarvt diese Lesart als falsch. Dies habe ich in Abschnitt ‎5.1.5 detailliert erläutert. Dort habe ich auch einen Vorschlag vorgestellt zur Deutung der älteren Lesarten von Apg 13,19-20, die die 450 Jahre vor der Landnahme einordnen und damit einem Abstand von 480 Jahren zwischen Exodus und Tempelbau nicht widersprechen. Diese Frist läuft von der Geburt Isaaks, dem von Gott verheißenen Samen Abrahams, der als Erbe des Landes eingesetzt wurde, bis zur Verteilung des verheißenen Landes 6 Jahre nach der Überschreitung des Jordans. Die zwingende Notwendigkeit einer Verlängerung der 480-Jahres-Frist – wie von einigen Vertretern der 594-Jahre-Theorie vertreten – kann mit dieser Bibelstelle somit nicht begründet werden.

Von Roger Liebi wird außerdem die im wissenschaftlichen Bereich der Archäologie derzeit mehrheitlich vertretene Chronologie des Landes Kanaan als weiteres Argument für eine Verlängerung der biblischen 480-Jahres-Frist auf 594 Jahre angeführt. Er sieht den Exodus u.a. wegen dieser Verlängerung schon im Jahr 1606 v. Chr. Der Beginn der Landnahme unter Josua nach Ende der 40-jährigen Wüstenwanderung fällt bei ihm somit auf das Jahr 1566 v. Chr.2 Die meisten bibeltreuen Forscher, die entsprechend der biblischen Angabe mit 480 Jahren rechnen, setzen den Exodus dagegen im Jahr 1445 und die Landnahme 1405 v. Chr. an. Das Jahr 1405 v. Chr. fällt nach der konventionellen Chronologie in den Bereich des Übergangs von der Späten Bronzezeit zur Eisenzeit. Die archäologischen Funde in dieser Epoche passen aber nach konventioneller Datierung nicht zu dem biblischen Landnahme-Bericht. Die Stadt Jericho z.B. war demnach in der späten Bronze- und der frühen Eisenzeit nicht bewohnt. Dagegen passen die archäologischen Schichten am Ende der Mittleren Bronzezeit, das konventionell etwa auf das Jahr 1550 v. Chr. datiert wird, erstaunlich gut zum Landnahme-Bericht. In dieser Zeit finden sich viele stark befestigte Städte, die größtenteils durch Feuer zerstört wurden (siehe ‎4.4.2).

Die Datierung der archäologischen Schichten in Kanaan folgt jedoch der ägyptischen Chronologie. Wie in den Abschnitten ‎1.6.1 und ‎4.4.2 dargelegt, wird die ägyptische Chronologie und damit die konventionelle Datierung im Bereich der archäologischen Wissenschaft jedoch inzwischen von einer größeren Zahl von Wissenschaftlern aus den Fachgebieten Ägyptologie, Assyriologie und Archäologie der Levante auch unabhängig von der biblischen Chronologie angezweifelt. Sie vertreten mit guten Gründen die Notwendigkeit einer Revision der Ägyptischen Chronologie, die zu einer Verschiebung der Datierung der Mittleren Bronzezeit auch im Land Kanaan führen würde. Bei einer Verschiebung des Zeithorizonts für das Ende der Mittleren Bronzezeit um etwa 130 bis 150 Jahre würden die archäologischen Funde ohne Ausweitung der 480-Jahres-Frist perfekt zum biblischen Landnahme-Bericht im Buch Josua passen. Ein Korrekturvorschlag in dieser Größenordnung wird neben weiteren Forschern auch von der Arbeitsgruppe biblische Archäologie (ABA) der Studiengemeinschaft Wort und Wissen vertreten (siehe ‎4.4.2). Damit kann eine Harmonisierung der biblischen Chronologie mit dem archäologischen Befund in Kanaan und Ägypten erreicht werden. Somit kann das Argument, dass archäologische Funde eine Abweichung von der biblischen Chronologie durch eine Umdeutung der angegebenen 480 Jahre auf 594 Jahre erfordern würden, ebenfalls zurückgewiesen werden.

Die Vertreter der Verlängerungstheorie gehen außerdem pauschal von der Annahme aus, dass alle in Richter und 1. Samuel genannten Regierungszeiten von Richtern und die angegebenen Unterdrückungszeiten nacheinander abgelaufen sind und in keinem einzigen Fall eine Überschneidung zwischen angegebenen Zeiträumen vorliegt. Eine solche pauschale Annahme wird den auf zwei Bibelbücher – und bezüglich des Richterbuchs auf einen chronologisch geordneten Teil und mehrere Anhänge – verteilten Berichten über die Richterzeit aber keineswegs gerecht. Es muss im Gegenteil jeder einzelne Bericht mit allen Kontextangaben detailliert auf seine chronologische Einordnung geprüft und auch die Möglichkeit von Rückblenden innerhalb eines Berichts und von Überschneidungen verschiedener Zeitraumangaben ins Auge gefasst werden. Eine solche Überprüfung habe ich in den vorausgehenden Abschnitten für die besonders schwierig einzuordnenden Richterzeiten von Samuel, Simson und Eli vorgelegt. Dabei habe ich aufgezeigt, dass die Richterzeit Elis, die nur außerhalb des Richterbuchs erwähnt wird, und die Richterzeit Simsons, über den in einem Anhang zum Richterbuch berichtet wird, parallel zu anderen Richtern eingeordnet werden können. Für Samuel ergibt sich dann aus den übrigen Angaben eine gut zum Kontext in 1Sam passende Richterzeit von 26 Jahren zwischen dem Richter Abdon und König Saul (siehe ‎9.1.1ff und Anlage 22a). Auch für die frühe Richterzeit habe ich einen Vorschlag vorgelegt, wie die genannten Regierungszeiten aller Richter und Fremdherrscher in dem biblisch zusätzlich genannten Zeitrahmen von 300 Jahren zwischen der Eroberung Heschbons und dem ersten Jahr des Richters Jeftah stimmig untergebracht werden können (siehe ‎9.1.2ff und Anlage 22b). Diesen Vorschlag habe ich anhand der Topografie des Siedlungsgebietes der zwölf Stämme (siehe ‎9.1.2.4 und Anlage 6a) und der in 1. Chronik und 1. Samuel genannten Hohepriester (siehe ‎9.1.2.6 und Anlage 22c) plausibilisiert. Damit habe ich nachgewiesen, dass es eine Deutungsmöglichkeit für diese Berichte gibt, die sowohl mit dem Teilzeitraum von 300 Jahren als auch mit einem Gesamtzeitraum von genau 480 Jahren konsistent ist. Gerade für bibeltreue Ausleger sollte eine Deutung, die diesen biblisch gesetzten Rahmen einhält, Vorrang vor anderen Deutungen haben.

Abschließend kann somit festgehalten werden, dass weder die Summe der Zeitraumangaben für die einzelnen Fremdherrscher, Richter und Ruhezeiten in den biblischen Berichten über die Richterzeit noch die im neuen Testament genannte 450-Jahres-Frist noch die im Bereich der Archäologie Kanaans zur Datierung der Funde verwendete falsche ägyptische Chronologie eine Ausweitung der biblisch angegebenen 480 Jahre zwischen dem Exodus und dem Baubeginn des Tempels Salomos auf 594 Jahre rechtfertigen können. Im Weiteren gehe ich daher davon aus, dass – wie im Bibeltext ohne jede Einschränkung angegeben ist – zwischen dem Auszug aus Ägypten und dem Baubeginn des Tempels unter Salomo genau 480 Jahre lagen.

Ein nicht ganz unwesentlicher Bestandteil der 480-Jahres-Frist ist auch die 40-jährige Regierungszeit Sauls, deren Länge ebenfalls von verschiedenen Auslegern angezweifelt wird. Diese untersuche ich in den folgenden Abschnitten.