Für die Untersuchung, ob für die Altersangaben in Psalm 90,10 statt der traditionellen Deutung als absolutes Höchstalter des Menschen auch eine alternative Deutung möglich ist, die besser mit unserer Lebenswirklichkeit vereinbart werden kann, möchte ich diese Stelle nochmals zitieren:

10 Die Tage unserer Jahre sind siebzig Jahre, und, wenn in Kraft, achtzig Jahre, und ihr Stolz ist Mühe und Nichtigkeit, denn schnell eilt es vorüber, und wir fliegen dahin.

Hier wird bei der Altersangabe 80 auf die Kraft Bezug genommen. Man könnte daher die angegebenen 70 Jahre als Altersgrenze für die Arbeitspflicht im Dienst des Pharao deuten, die bei ausreichender Kraft bis zum 80. Lebensjahr hinausgeschoben wurde. Nur Männer bis zu diesem Alter wären dann in den Arbeitsgruppen in Ägypten enthalten gewesen. Die nach 2Mose 4,29 versammelten Alten (oder Ältesten)1 Israels, die mit Mose und Aaron die Entscheidung trafen, vom Pharao die Freilassung zu fordern, wären dann solche über 70- bzw. 80-jährige vom Arbeitsdienst Befreite gewesen, die eine Art Altersparlament bildeten. Wenn man das Höchstalter für den Arbeitseinsatz in Ägypten mit 80 Jahren ansetzt, ist außerdem erklärbar, warum Aaron mit seinen 83 Jahren ohne Konsequenzen durch die Antreiber des Pharao Mose in die Wüste entgegengehen konnte (2Mose 4,27). 

Wenn die beim ersten Zensus für den Heeresdienst ermittelten Gruppengrößen – wie in Abschnitt ‎3.1.1.2 begründet – auf die Arbeitsgruppen in Ägypten zurückgehen, müsste man in der Folge annehmen, dass die über 70- bzw. 80-Jährigen in den beim ersten Zensus ermittelten Zahlen nicht enthalten sind, da sie dann auch nicht mit dem Heer auszogen. Dies scheint auf den ersten Blick der Aufforderung Gottes in 4Mose 1,2-3 zu widersprechen, alles Männliche über 20 Jahren zu zählen. Diese Aussage wird jedoch in Vers 3 durch die Ergänzung, „jeden, der mit dem Heer auszieht“ eingeschränkt. Es waren also nur die über 20-Jährigen, die mit dem Heer auszogen, zu zählen. Die flexible Altersgrenze von 70 oder 80 Jahren wurde nicht extra erwähnt, da sie damals als bekannt vorausgesetzt werden konnte. Im Übrigen ist es eine Selbstverständlichkeit, dass nicht alle über 20-Jährigen für das Heer gemustert wurden, da zumindest gebrechliche Greise dafür nicht in Frage kamen. Dass Kaleb bei Angabe seines Alters ausdrücklich darauf hinwies, dass seine Kraft mit 85 Jahren noch gleich war, wie vor 45 Jahren (Jos 14,10-11), zeigt, dass seine Teilnahme am Kampf eine Ausnahme war, die einer besonderen Begründung bedurfte. Sie würde somit die Regel bestätigen.

Nachfolgend soll überprüft werden, ob die vorstehende Deutung mit dem Wortlaut des Grundtextes von Ps 90,10 vereinbart werden kann. Dafür zitiere ich nachfolgend den ersten Teil dieses Verses im hebräischen Original mit deutscher Umschrift:

    . . .   יְמֵֽי־שְׁנוֹתֵ֨ינוּ בָהֶ֥ם שִׁבְעִ֪ים שָׁנָ֡ה וְאִ֤ם בִּגְבוּרֹ֨ת ׀ שְׁמ֘וֹנִ֤ים שָׁנָ֗ה וְ֭רָהְבָּם עָמָ֣ל וָאָ֑וֶן 10

10 JöMeJ-SchöNOTeJNU BaHäM SchiBh~IM SchaNaH WöI̊M BiGöBhURoT SchöMONIM SchaNaH WöRoHBaM ÃMaL WaAWäN …

10 (Die) Tage unserer Jahre: In ihnen (sind) 70 Jahre und, wenn in Kräften, 80 Jahre und ihr Stolz ist Mühe und Nichtigkeit …

(Elberfelder 2006 [fettgedruckte Ergänzungen: M.K.]; die in Klammer gesetzten Wörter stehen zwar nicht im Grundtext, sind aber im Deutschen notwendige Einfügungen der Elberfelder Übersetzung)

Der Vers beginnt mit Nennung des Zeitraums „die Tage unserer Jahre“. Dieser wird allgemein als unsere Lebenszeit verstanden. Dann folgt ein Nominalsatz, der erklärt, was in diesem Zeitraum (unter anderem) enthalten ist. In den meisten Übersetzungen wird die Präposition „in“ mit dem Pronominalsuffix „ihnen“: בָהֶם (BaHäM = in ihnen) nicht übersetzt. Damit erfolgt eine Gleichsetzung der Lebenszeit mit den genannten 70 bis 80 Jahren. Dies entsprach aber schon damals nicht der Realität und widerspricht auch unserem heutigen Erleben. Übersetzt man diese Präposition mit dem Suffix jedoch, so ergibt sich die Aussage, dass die Lebenszeit 70 bis 80 Jahre enthält, auf die besondere Merkmale zutreffen, nämlich dass die Menschen in dieser Zeit etwas leisten, auf das sie stolz sind, obwohl es nur Mühe und Nichtigkeit ist. Etwas freier übersetzt könnte Ps 90,10 daher wie folgt lauten:

10 Unser Leben enthält 70 Jahre, bei guter Kraft vielleicht 80, auf die wir stolz sind, aber sie sind von Mühe und Nichtigem geprägt, denn schnell eilt es vorüber, und wir fliegen dahin.

Auch wenn in unserer Zeit das Arbeitsleben etwas kürzer ist, so gilt die in diesem Vers transportierte Erkenntnis doch auch heute noch. In unserer heutigen Gesellschaft hat die berufliche Stellung großen Einfluss auf den sozialen Status eines Menschen. Entsprechend investieren nicht wenige Menschen viel Zeit und Kraft in ihre Karriere und sind stolz auf ihren beruflichen Erfolg. Auch schon Kinder und Jugendliche werden dazu angehalten sich in ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung zu engagieren, um entsprechende Berufs-Chancen zu haben, damit sie (und die Eltern) stolz auf ihre Leistungen sein können. Ein ähnliches Verhalten kannte Mose wahrscheinlich aus der Oberschicht in Ägypten. Und im Kleinen ist wohl jeder Mensch stolz auf das, was er in seinem aktiven Leben an Erfolgen zu verzeichnen hatte und erzählt auch noch im Alter seinen Enkeln gerne davon. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings oft, dass solche Erfolge schnell an Bedeutung verlieren, wenn Beziehungen zu engen Angehörigen zerbrechen oder die Gesundheit verloren geht. Spätestens wenn es ans Sterben geht, erweist sich, dass diese vordergründigen Dinge, auf die wir stolz waren und die uns so viel Mühe gekostet haben, für sich allein nichtig und leer sind. Diese Erkenntnis entspricht dem Sinn von Ps 90,10. Die Konsequenz daraus zieht dann Ps 90,12:

12 So lehre ⟨uns⟩ denn zählen unsere Tage, damit wir ein weises Herz erlangen!

Aufgrund der vorstehenden Erläuterungen stelle ich folgende These auf: „Die Altersangabe von 70 Jahren in Ps 90,10 ist als Altersgrenze für die Arbeitspflicht in Ägypten und für den Heeresdienst zur Zeit des ersten Zensus zu verstehen. Bei noch ausreichender Kraft wurde diese Altersgrenze auf bis zu 80 Jahre hinausgeschoben.“ Diese These wird im nächsten Abschnitt noch weiter untermauert.

  • 1 Das Hebräische Handwörterbuch von Gesenius, S. 309 gibt für das hebräische Wort זָקֵן (ŞaQeN) die Bedeutung „alt“ bzw. bei Gebrauch als Substantiv „Greis, Alter“ an, in einer weiteren Bedeutung auch „die Ältesten (Repräsentanten einer Körperschaft)“. Die hier gebrauchte Constructus-Form mit Bezug auf die Söhne Israels אֶת־כָּל־זִקְנֵ֖י בְּנֵ֥י יִשְׂרָאֵֽל (ÄT-KoL-ŞiQNeJ BöNeJ JiSsRaEL, alle Alten der Söhne Israels) kann in diesem Zusammenhang entweder als „alle über 70- bis 80-Jährigen“ oder als „alle Ältesten“ verstanden werden, wobei sich letztere aus den über 70- bis 80-Jährigen rekrutiert haben müssten, da die Jüngeren für den Pharao arbeiten mussten. So gab es hier eine Gruppe von Alten (im Sinne von Bejahrten), von denen entweder alle oder nur eine Auswahl (vgl. 4Mose 11,16: Einsetzung von 70 Ältesten, die später mit Mose Verantwortung trugen) den Ältestenrat bildeten.