Wie in Abschnitt 9.1 erläutert, muss der Hohepriester Eli sein Richteramt parallel zu anderen Richtern ausgeübt haben, wenn die im AT-Text benannte Zeitspanne von 480 Jahren zwischen Exodus und Tempelbau ernstgenommen werden soll. In 1Sam 4,15+17-18 ist über das Ende Elis folgendes ausgesagt:
15 Eli aber war 98 Jahre alt, und seine Augen waren starr geworden, sodass er nicht ⟨mehr⟩ sehen konnte.
17 Und der Bote antwortete und sagte: Israel ist vor den Philistern geflohen. Auch hat es eine große Niederlage im Volk gegeben, und auch deine beiden Söhne, Hofni und Pinhas, sind tot, und die Lade Gottes ist weggenommen worden. 18 Und es geschah, als er die Lade Gottes erwähnte, fiel ⟨Eli⟩ rücklings vom Stuhl an der Tür und brach das Genick und starb; denn alt war der Mann und schwer. Er hatte Israel vierzig Jahre gerichtet.
Es wird hier keinerlei Bezug zu einem Richter vor oder nach ihm hergestellt, so dass der Annahme, dass er parallel zu anderen Richtern sein Richteramt ausübte, keine biblische Aussage entgegensteht. Es gibt mit der Prophetin und Richterin Debora sogar einen ähnlich gelagerten Fall, da neben ihr Barak als Heerführer ebenfalls eine der Funktionen eines Richters ausübte (Ri 4,4-6) und somit als Co-Richter bezeichnet werden könnte. Auch Eli konnte als Hohepriester nicht gleichzeitig Heerführer sein und benötigte somit einen Co-Richter neben sich. Ausgehend von der 26-jährigen Richterzeit Samuels lässt sich die chronologische Einordnung der Lebens- und Richterzeit Elis aus den biblischen Angaben genau ermitteln. Die am Tag von Elis Tod von den Philistern weggenommene Bundeslade kehrte sieben Monate später wieder zurück (1Sam 6,1). Ab Rückkehr der Bundeslade folgten noch 20 Jahre Bedrängnis durch die Philister, ehe Samuel sein 26-jähriges Richteramt antrat und die Philister schlug (1Sam 7,2-3). Somit starb Eli rund 21 Jahre vor Samuels Amtsantritt bzw. 47 Jahre vor Sauls Einsetzung als König.
Wenn die Einordnung der Richterzeit Simsons unmittelbar vor dem Richter Jeftah – wie in Abschnitt 9.1.1.3 vorgeschlagen – zutrifft, starb Simson beim Einsturz des Dagon-Tempels in Gaza etwa elf Jahre vor Elis Tod und wäre damit ein Zeitgenosse Elis gewesen. Die Philister hätten sich in diesen elf Jahren von ihren Verlusten beim Einsturz des Dagon-Tempels in Gaza wieder erholt haben können und somit wäre der erneute Angriff gegen Israel, der zur Wegnahme der Bundeslade und damit indirekt zum Tod Elis führte, mit dieser Einordnung Simsons konsistent. Auch die Tatsache, dass Gaza anders als Aschdod, Gat und Ekron als Aufstellungsort für die Bundeslade nicht erwähnt wird – was darauf hindeutet, dass der Dagon-Tempel in Gaza nach dem von Simson verursachten Einsturz noch nicht wieder aufgebaut war – lässt einen Abstand von elf Jahren zwischen dem Tod Simsons und dem Tod Elis plausibel erscheinen. Dies sehe ich als weitere Bestätigung für die vorgeschlagene chronologische Einordnung Simsons an.
Aufgrund seiner langen Lebensdauer von 98 Jahren kannte Eli sogar noch Gideon. Er wurde 18 Jahre nach dem Sieg Gideons über die Midianiter geboren. In seine Lebenszeit fielen damit die folgenden Richterzeiten:
- 22 Jahre der 40-jährigen Richterzeit Gideons (Ri 8,28)
- die dreijährige Regierungszeit als König von dessen Sohn Abimelech (Ri 9,6+22)
- die 23-jährige Richterzeit Tolas (Ri 10,1-2)
- die 22-jährige Richterzeit Jaïrs (Ri 10,3-5)
- die 20-jährige Richterzeit Simsons (Ri 15,20), die die Richterzeit Jaïrs um zwei Jahre überlappt hat.
- die 6-jährige Richterzeit Jeftahs (Ri 12,7)
- die ersten 5 Jahre des Richters Ibzan (Ri 12,8-10)
Elis 40-jährige Amtszeit als priesterlicher Richter begann im elften Jahr des Richters Jaïr und beinhaltete dessen letzte zwölf Amtsjahre, die daran anschließenden noch 18 Amtsjahre Simsons, die sechs Jahre Jeftahs und die ersten fünf Jahre von Ibzan. Er ist im Alter von 58 Jahren in einer sehr unruhigen Zeit zum Richter berufen worden. Viele aus dem Volk beteten die Götter der umliegenden Völker an. Jaïr, der im Ostjordanland residierte, konnte sich gegen die Philister, die den Süden des Westjordangebietes unterdrückten, nicht durchsetzen. Der durch einen Engel angekündigte und von Geburt an Gott geweihte Retter Simson – von dem Eli als Hohepriester sehr wahrscheinlich wusste – war erst zehn Jahre alt. Vielleicht war es in den ersten zwölf Jahren – solange der Richter Jaïr noch lebte – Elis Hauptaufgabe als hohepriesterlicher Richter, den jungen Simson als eine Art Mentor zu begleiten.
Nur zwei Jahre nachdem Simson als 20-Jähriger den Kampf gegen die Philister aufgenommen hatte, starb Jaïr und die Ammoniter unterwarfen das gesamte Ostjordanland für 18 Jahre. Während dieser Zeit hatte Eli gemeinsam mit dem anfangs gerade 22-jährigen Simson, der sich wahrscheinlich zunächst ausschließlich auf seinen Kampf gegen die Philister konzentrierte, die Verantwortung als Richter für das restliche Gebiet Israels. Er war es wahrscheinlich auch, der nach der Gefangennahme Simsons durch die Philister und dem Einfall der Ammoniter im Westjordangebiet zur Buße und Umkehr zu Jahwe aufrief. Vielleicht hat er sogar bei den Ältesten Gileads angeregt, den kampferfahrenen Jeftah als neuen Richter zu berufen (Ri 11,5-10). Jedenfalls war ihm klar, dass er wie damals die Prophetin und Richterin Debora, die Barak als Heerführer berufen hatte (Ri 4,5-6), einen kampferfahrenen Co-Richter neben sich benötigte, da er selbst nicht als Heerführer antreten konnte. Jeftah war der Sohn einer Hure und von der Familie seines Vaters aus dem Land Gilead vertrieben worden. Er hatte als Anführer einer Bande ehrloser Männer im Land Tob Kampferfahrung gesammelt (Ri 11,1-3). Es ist kaum anzunehmen, dass er sich in der Geschichte Israels so gut auskannte, dass er die in Ri 11,15-27 niedergeschriebene Botschaft an den König von Ammon selbst hätte formulieren können. Diese auf Informationen aus 4. und 5. Mose beruhende Botschaft trägt eher die Handschrift Elis, der sich als Hohepriester in den heiligen Schriften auskannte und ihn wahrscheinlich bei den Verhandlungen mit dem König von Ammon beriet.
Diese Ausführungen zur Richterzeit Elis sollen an dieser Stelle genügen, um zu zeigen, dass die Annahme einer Parallelregierung Elis als hohepriesterlicher Richter neben anderen im Richterbuch genannten Richtern plausibel ist. Auf die Rolle Elis als Co-Richter neben Jeftah komme ich in Abschnitt 9.1.2.7 nochmals zurück. Über Eli wird allerdings nur in 1Sam berichtet, während die parallel zu ihm regierenden Richter nur im Richterbuch erwähnt werden. Dies hängt wahrscheinlich mit der Entstehungsgeschichte des Richterbuches zusammen. Die Frage der Verfasserschaft der Berichte im Richterbuch und ihre Überlieferung bis zu einem Redaktor, der sie zu dem uns heute vorliegenden Richterbuch zusammenfasste, ist für das Verständnis der Chronologie der Richterzeit daher durchaus relevant. Deshalb werde ich diese Frage im Folgenden näher untersuchen. Vorher werde ich aber im nächsten Abschnitt noch eine kurze tabellarische Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse vorstellen.