Nach der verstärkten archäologischen Erforschung der Funde aus dem alten Ägypten im 19. Jh haben Bibelwissenschaftler und Ägyptologen versucht, die biblischen Berichte mit der aus den Funden und vorliegenden schriftlichen Geschichtsquellen erschlossenen ägyptischen Chronologie zu synchronisieren. Dabei setzten Sie die von den Israeliten gebaute Vorratsstadt Ramses (רַעַמְסֵס; RaÃMSeS, siehe 2Mose 1,11) mit der Residenzstadt Pi-Ramesse des berühmten Pharaos Ramses II. gleich. Dieser wurde damit als der Pharao der Bedrückung angesehen (siehe auch 10.1.2 mit Fußnote 326).
Die wörtliche Anwendung der 480-Jahres-Frist zwischen Exodus und Tempelbau Salomos hätte aber dazu geführt, dass der Bau der Vorratsstadt durch die Israeliten rund 180 Jahre vor der damals angenommenen Regierungszeit von Ramses II. stattgefunden hätte. Deshalb wurde postuliert, dass es sich bei den 480 Jahren nicht um Jahresangaben gehandelt hätte, sondern zwölf fiktive Generationen à 40 Jahre gemeint waren. Da die tatsächliche Länge einer Generation jedoch nur etwa 25 Jahre betragen hätte, würden sich real nur (12 x 25 =) 300 Jahre ergeben. Diese sogenannte „kurze Chronologie“ der biblischen Geschichte wird noch heute von den meisten Ägyptologen vertreten. Weitere Zeitangaben im Richterbuch – wie die allein schon 300 Jahre zwischen der Eroberung Heschbons und dem ersten Regierungsjahr des Richters Jeftah (Ri 11,26; siehe 9.1) – werden dabei ignoriert. Da die Zahl 300 nicht durch 40 teilbar ist, kann bei ihr nicht der gleiche Trick zur Reduzierung angewandt werden wie bei der Zahl 480. Wie ich in den vorausgehenden Abschnitten gezeigt habe, lassen sich auch die weiteren Angaben zu Regierungszeiten einzelner Richter nicht einfach reduzieren, ohne die historische Zuverlässigkeit dieser alttestamentlichen Berichte insgesamt in Frage zu stellen. Hier wird somit der gesamte biblische Kontext ignoriert, um mit dem Städtenamen „Ramses“ eine Querverbindung zur ägyptischen Geschichte herstellen zu können.
Diese Kritik an der „kurzen Chronologie“ bestätigt auch David Rohl in seinem schon in Abschnitt 1.6.1 erwähnten Buch „Pharaonen und Propheten – Das Alte Testament auf dem Prüfstand“, wo er den oben erläuterten „Kunstgriff“ zur Verkürzung der 480-Jahres-Frist zurückweist und erklärt, dass die von den Israeliten gebaute Vorratsstadt nicht mit der Residenzstadt von Ramses II. identisch ist. Er geht davon aus, dass die Erwähnung des Städtenamens Ramses in 2Mose 1,11 – etwa 80 Jahre vor dem Exodus – ein Anachronismus ist, der durch einen späteren Textrevisor eingefügt wurde. Dieser verwendete einen Namen, der in seiner Zeit für dieses Gebiet bekannt war, um den zeitgenössischen Lesern zu erklären, wo das Siedlungsgebiet der Israeliten lag. In gleicher Weise nehmen auch die Vertreter der kurzen Chronologie für die Erwähnung von „Ramses“ in 1Mose 47,11 einen Anachronismus an.1 Diese Stelle zitiere ich nachfolgend:
11 Josef aber wies seinem Vater und seinen Brüdern Wohnsitze an und gab ihnen Grundbesitz im Land Ägypten, im besten Teil des Landes, im Land Ramses, wie der Pharao befohlen hatte.
Bei einem 215-jährigen Ägyptenaufenthalt (siehe 5.1.2) ist diese Stelle (215 – 80 =) 135 Jahre vor der Erwähnung in 2Mose 1,11 einzuordnen – bei Annahme eines 430-jährigen Aufenthalts noch deutlich früher. Zu dieser Zeit war auch bei Anwendung der kurzen Chronologie noch kein Pharao mit Namen Ramses aufgetreten. Hier muss also auf jeden Fall ein Anachronismus angenommen werden. Dann ist dies auch bei dem zweiten Vorkommen in 2Mose 1,11 annehmbar.
In ähnlicher Weise wurde eine weitere Querverbindung zwischen einem aus der ägyptischen Geschichte bekannten Pharao mit dem in 2Chr 12,2 erwähnten Pharao Schischak hergestellt:
2 Und es geschah im fünften Jahr des Königs Rehabeam, da zog Schischak, der König von Ägypten, gegen Jerusalem herauf – denn sie hatten treulos gegen den HERRN gehandelt
Der hier als Schischak bezeichnete Pharao zog im fünften Regierungsjahr Rehabeams, des Sohnes Salomos, gegen Jerusalem. Dieser herrschte zu dieser Zeit nach der Abspaltung der zehn Stämme des Nordreiches unter Jerobeam nur noch über die Stämme Juda und Benjamin. Schischak hatte Jerobeam nach dessen Flucht vor Salomo Asyl gewährt (1Kön 11,40):
40 Und Salomo suchte Jerobeam zu töten. Jerobeam aber machte sich auf und floh nach Ägypten zu Schischak, dem König von Ägypten; und er war in Ägypten bis zum Tod Salomos.
Nach Salomos Tod kehrte Jerobeam nach Israel zurück, um die ihm von einem Propheten vorausgesagte Herrschaft über die zehn nördlichen Stämme anzutreten. Schischak nutzte nun die Schwäche Rehabeams zu einem gezielt gegen Juda gerichteten Kriegszug, um die noch aus der Zeit Salomos dort vorhandenen Reichtümer zu rauben. Er eroberte die befestigten Städte Judas und kam bis vor Jerusalem, von wo er die Schätze des Königshauses und des Tempels wegführte (2Chr 12,4+9). Von einer Ausdehnung dieses Kriegszuges auf das Nordreich wird im Alten Testament nichts berichtet. Dagegen sprechen auch die freundschaftlichen Beziehungen Jerobeams zu Schischak während seiner Exil-Zeit.
Von den frühen Geschichtsforschern in Ägypten, die nach Parallelen zur biblischen Geschichte suchten, wurde der biblische Schischak mit Pharao Scheschonk I., dem Begründer der 22. Dynastie der ägyptischen Pharaonen, gleichgesetzt. Als Begründung wurde eine Inschrift auf der Südfassade des Bubastiden-Portals in Karnak herangezogen, die über einen Feldzug Scheschonks I. berichtet, den er in seinem 20. Regierungsjahr durchführte. Von den dort aufgeführten eroberten Städten waren viele aus dem Alten Testament bekannt. Deshalb wurde das 20. Regierungsjahr Scheschonks I. mit dem 5. Regierungsjahr Rehabeams gleichgesetzt. Bei Scheschonk I. ergibt sich aus ägyptischen Quellen nicht, wann genau er regiert hat. Durch die lückenlose Chronologie der Könige Israels und Judas bis zur Wegführung ins Exil nach Babylon durch Nebukadnezar im Jahr 587 v. Chr. ergibt sich aber für die Regierungszeit Rehabeams eine Anbindung an die gesicherte Geschichte, die sich durch die Erwähnung einzelner Könige Israels und Judas in assyrischen Chroniken bestätigen lässt. Das 5. Regierungsjahr Rehabeams wird nach Thiele auf 925 v. Chr. datiert. Dieses Jahr wurde nun mit dem 20. Jahr Scheschonks I. gleichgesetzt. Dieser sogenannte Schischak-Scheschonk-Synchronismus ist eine weitere zentrale Säule der ägyptischen Chronologie.
Auch diese Gleichsetzung ist jedoch – wie Rohl noch ausführlicher begründet2 – nicht haltbar, da der alttestamentliche Bericht über den Kriegszug Schischaks und die ägyptische Inschrift über den Kriegszug Scheschonks I. inhaltlich völlig unterschiedliche Zielgebiete beschreiben. Im AT wird ausschließlich Juda mit seinen Festungsstädten und seiner Hauptstadt Jerusalem als Zielgebiet beschrieben. Auf der Inschrift über den Feldzug Scheschonks I. in Karnak werden dagegen hauptsächlich Städte im Nordreich aufgeführt – Jerusalem und andere Festungsstädte Judas dagegen nicht. Auch hier zeigt sich, dass es einer sorgfältigen Analyse der geschichtlichen Quellen bedarf und einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Aussagen – wie der Städtename „Ramses“ oder der Pharaonen-Name „Schischak“ – ohne Berücksichtigung des Gesamtkontextes des Alten Testamentes für die Erklärung von geschichtlichen Fragestellungen oder gar als Basis für so weitreichende Entscheidungen wie die Aufstellung einer Chronologie nicht ausreichend sind.
Damit haben sich zwei wesentliche Säulen der mehrheitlich anerkannten ägyptischen Chronologie als nicht tragfähig erwiesen. Rohl zeigt auch anhand von archäologischen Funden, dass diese Chronologie gravierende Fehler – wie z.B. Parallel-Regierungen von traditionell als aufeinanderfolgend angesehenen Dynastien – enthält, die eine Verschiebung der Regierungszeit verschiedener Pharaonen um mehrere hundert Jahre erfordern. Auch die Regierungszeit von Ramses II. verschiebt sich dadurch in eine spätere Zeit, so dass der Abstand zwischen dem Aufenthalt der Israeliten in Ägypten und Ramses II. noch deutlich größer als 180 Jahre wird. Rohl stellt außerdem ein Szenario zur Einordnung des Ägyptenaufenthalts der Israeliten in die Ägyptische Geschichte auf, das mit dem alttestamentlichen Bericht über diesen Aufenthalt und dem in 1 Kön 6,1+37 angegebenen Abstand von 480 Jahren zwischen Exodus und Beginn des Tempelbaus Salomos vereinbar ist (siehe 1.6.1). Dadurch ist eine Harmonisierung der ägyptischen Geschichte mit den chronologischen Angaben des Alten Testaments unter Berücksichtigung des gesamten Kontextes möglich. Es gibt somit auch außerhalb der Bibel keine zwingenden Gründe, an der sogenannten „kurzen Chronologie“ der Geschichte Israels, die gegen die ausdrückliche Angabe von 480 Jahren und den gesamten Kontext im Richterbuch nur 300 Jahre für die Zeit zwischen Auszug aus Ägypten und dem Tempelbau Salomos annimmt, festzuhalten.