Nach den chronologischen Angaben der Bibel fällt der Beginn der Landnahme etwa in die Jahre 1420 bis 1405 v. Chr. (Begründung siehe ‎9.1 bis ‎9.1.4.2). Diese zeitliche Einordnung vertreten auch die Herausgeber von „Keine Posaunen vor Jericho? Beiträge zur Archäologie der Landnahme“. Nachfolgend zitiere ich aus ihrem Vorwort zur dritten Auflage:

Die Kernthese des Buches besteht darin, dass die Eroberung Kanaans durch die Israeliten unter Josua nicht, wie früher durch die Vertreter der Albright-Schule angenommen, am Übergang von der Späten Bronze- zur Eisenzeit, sondern bereits gegen Ende der Mittleren Bronzezeit stattfand. Nur für diesen Zeitpunkt stimmen der biblische Bericht und der archäologische Befund überein, und das sogar auf bemerkenswerte Weise. […]

Die Idee, die Ereignisse des Buches Josua, die biblisch auf die Jahre kurz vor 1400 v. Chr. zu datieren sind, archäologisch auf das Ende der Mittleren Bronzezeit zu beziehen, geht nicht auf die Herausgeber dieses Buches zurück, sondern wurde bereits Ende der 1970er Jahre von dem britischen Alttestamentler John Bimson, der einen Beitrag für dieses Buch verfasst hat, zur Diskussion gestellt. […] Es stellte sich heraus, dass die Synchronisierung der biblischen Landnahme mit den archäologischen Schichten der Mittleren Bronzezeit nur auf der Grundlage einer […] chronologischen Revision möglich ist, die den gesamten Alten Orient und vor allem Ägypten betreffen würde. Dass eine solche Revision tatsächlich notwendig ist, wird von den Herausgebern dieses Buches ebenso wie von John Bimson heute vertreten.1

Da das Ende der Mittleren Bronzezeit konventionell etwa auf 1550 v. Chr. datiert wird, ist eine Verschiebung um etwa 130 bis 150 Jahre erforderlich. In dem zitierten Buch werden die verschiedenen archäologisch-historischen Modelle zur Herkunft des Volkes Israel, die den biblischen Bericht mehrheitlich als Mythos ansehen, diskutiert und anschließend die im o.g. Zitat genannte Kernthese dargestellt und begründet. Zu chronologischen Fragen allgemein und speziell zur Revision der ägyptischen Chronologie haben die o.g. Autoren zwei weitere Sammelbände herausgegeben, auf die zur Vertiefung des Themas verwiesen wird.2 Im Rahmen dieser Diskussion ist auch eine internationale Fachgruppe von Wissenschaftlern entstanden, die sich den Namen BICANE (= Bronze to Iron Age Chronology oft the Ancient Near East) gegeben hat und deren Mitglieder zu mehr als drei Vierteln hauptberuflich mit Ägyptologie, Assyriologie und levantinischer Archäologie befasst sind. Die meisten von ihnen sind von der Notwendigkeit einer substanziellen Revision der archäologischen Chronologie des Alten Orient überzeugt, auch wenn unterschiedliche Ansätze bestehen, wie diese Korrektur aussehen muss.3 Wahrscheinlich müssen an verschiedenen Stellen Korrekturen vorgenommen werden, so dass sich für verschiedene Epochen unterschiedliche Zeitverschiebungen ergeben. Nimmt man für die Zeit der Landnahme eine Korrektur um etwa 130 bis 150 Jahre vor, passen archäologischer Befund und die AT-Berichte über die Landnahme sowie die biblische Chronologie perfekt zusammen. Eine Korrektur der ägyptischen Chronologie ist auch das zentrale Thema des schon in Abschnitt ‎1.6.1 erwähnten Dokumentar-Films „Pattern of Evidence Exodus“, in dem verschiedene renommierte Wissenschaftler – sowohl Befürworter als auch Gegner einer solchen Korrektur – interviewt werden und das Thema sehr gut verständlich dargestellt wird.4 Es kann daher festgehalten werden, dass entgegen der aktuell herrschenden Mehrheitsmeinung auch ernstzunehmende wissenschaftliche Argumente für eine Historizität des biblischen Landnahme-Berichts vorhanden sind.

Die in Khirbet el-Maqatir gefundene einheimische Keramik datiert Wood auf die Späte Bronzezeit I, deren Ende nach der konventionellen Chronologie etwa dem biblischen Landnahme-Datum kurz vor 1400 v. Chr. entspricht.5 Eine Korrektur der Chronologie hält er nicht für erforderlich. Zu einer ähnlichen Argumentation zu Keramikfunden in Jericho, mit der Wood entgegen der Mehrheitsmeinung auch die Zerstörung Jerichos auf die Späte Bronzezeit I datierte, werden diverse Gegenargumente verschiedener Forscher in „Keine Posaunen vor Jericho?“ diskutiert. Es wird z.B. vertreten, dass diese Keramikformen schon seit der Mittleren Bronzezeit in Gebrauch waren, so dass sie eine eingrenzende Datierung nur auf die Späte Bronzezeit I nicht rechtfertigen. Auch eine längere Überlappung der Keramikstile sowie eine regional unterschiedliche Zeitdauer bis zur Durchsetzung einer Stiländerung sind in der Diskussion. Jedenfalls ist eine sichere Datierung in dieser Zeit allein durch einheimische Keramik sehr schwierig.6

Eine stark befestigte Stadt Ai und ihre Zerstörung durch Feuer würde besser zum archäologischen Gesamtbild am Ende der Mittleren Bronzezeit passen. Zu dieser Zeit hatten alle Städte gigantische Befestigungsanlagen und kaum eine Stadt entging der Zerstörung. Dies betrifft insbesondere auch alle Städte für die dies im biblischen Landnahme-Bericht erwähnt wird.7 Lediglich für Ai wird dies bisher mehrheitlich nicht angenommen. Würde man Khirbet El-Maqatir mit Ai identifizieren und seine Zerstörung ebenfalls auf die Mittlere Bronzezeit datieren, wäre diese Lücke geschlossen. Von dieser Annahme und einer notwendigen Korrektur der archäologischen Chronologie, wie oben dargestellt, gehe ich für die weiteren Ausführungen aus.

Warum Josua als erstes Ziel im Landesinnern Kanaans Ai auswählte, ist aus dem Bibeltext nicht zu entnehmen. Er hatte aber durch Rahab und ihre Familie, die bei der Eroberung Jerichos verschont wurden (Jos 2,9-13; Jos 6,17), Insiderkenntnisse und wusste daher um die strategische Bedeutung Ais. Wood vermutet, dass nördlich von Ai durch das Wadi Gayeh die Grenze verlief zwischen Sichem – dem nach seiner Überzeugung in dieser Zeit beherrschenden Stadt-Staat des zentralen Hügellandes – und dem Stadt-Staat Jerusalem. Er schlägt vor, dass Khirbet el-Maqatir/Ai die nördliche Grenzfestung Jerusalems war und Beitin/Bet-Awen jenseits des Wadi Gayeh die südliche Grenzfestung von Sichem.8

Dann müsste man aber annehmen, dass Bet-Awen ebenso wie Sichem schon vor der Eroberung Ais zerstört wurde – z.B. durch innerkanaanäische Streitigkeiten. Denn gemäß Jos 8,30-35 zog Israel unmittelbar nach der Eroberung Ais nach Sichem an den Fuß der Berge Ebal und Garizim, wo Josua einen Altar baute und vor der ganzen Versammlung Israels das Gesetz Moses verlesen wurde. Es wird ausdrücklich erwähnt, dass auch Frauen, Kinder und Fremdlinge dort versammelt wurden.9 Da von keiner Eroberung berichtet wird, kann man annehmen, dass die schon vorher zerstörte Stadt und das Umland kampflos besetzt wurden. Auch dass die befestigte Stadt Bet-Awen, die nur 1,5 km entfernt in Sichtweite von Ai lag, bei den Kampfberichten keine Erwähnung findet, sondern lediglich bei der Ortsbeschreibung von Ai, bestätigt eine schon früher erfolgte Zerstörung. Diese Schlussfolgerung müsste noch anhand der archäologischen Befunde aus den Ausgrabungen von Beitin verifiziert werden.10

  • 1 Uwe Zerbst und Peter van der Veen:  Keine Posaunen vor Jericho? Beiträge zur Archäologie der Landnahme. 3., überarb. und erw. Auflage. Holzgerlingen: SCM Hänssler 2018 (Studium Integrale Archäologie), S. 11

    2 Peter van der Veen und Uwe Zerbst: Volk ohne Ahnen? Auf den Spuren der Erzväter und des frühen Israel. Holzgerlingen: Hänssler 2013 (Studium Integrale Archäologie) und Peter van der Veen und Uwe Zerbst: Biblische Archäologie am Scheideweg? Für und Wider einer Neudatierung archäologischer Epochen im alttestamentlichen Palästina. Holzgerlingen: Hänssler 2002 (Studium Integrale Archäologie)

    3 2015 erschien der erste Tagungsband der BICANE-Gruppe unter dem Titel Solomon and Shishak: Current Perspectives from Archaeology, Epigraphy, History and Chronology. BAR International Series 2732, Oxford

    4 Film: Pattern of Evidence Exodus. Auf der Suche nach den Spuren des Exodus. Thinking man films, 2014, deutsche Fassung: Düsseldorf: inner cube 2018.

    5 Vgl. Wood: The search for Joshua’s Ai, S. 231-236 (pdf: S. 31-36)

    6 Vgl. Zerbst & van der Veen:  Keine Posaunen vor Jericho?, S. 53-57 und John J. Bimson: Wann eroberte Josua Kanaan, am Ende der Mittleren Bronzezeit IIC oder am Ende der Späten Bronzezeit I? In: Keine Posaunen vor Jericho? Beiträge zur Archäologie der Landnahme., S. 85-99

    7 Vgl. Zerbst & van der Veen: Keine Posaunen vor Jericho?, S. 47f und Tafel 2, S. 49

    8 Vgl. Wood: The search for Joshua’s Ai, S. 237f (pdf: 37f)

    9 Das Lager in Gilgal wurde aber beibehalten. Dorthin kehrte das Heer und das ganze Volk nach der Versammlung in Sichem wieder zurück. Dies ergibt sich daraus, dass laut Jos 9,6 die Gibeoniter Josua in Gilgal aufsuchten, um einen Bund mit den Israeliten zu erschleichen und dass von dort das Heer später aufbrach, um den Gibeonitern zu Hilfe zu kommen (Jos 10,6-7).

    10 Siehe dazu den Hinweis auf Ausgrabungen durch Albright 1934 und James Kelso 1954, 1957 und 1960 bei Wood: The search for Joshua’s Ai, S. 228 (pdf: S. 28).